Zeit Des Zorns
Demonstranten, auch die, die völlig friedlich protestiert haben, als Bedrohung ihrer Macht sahen. Die haben einfach gemerkt, dass wir uns von ihnen nicht einschüchtern lassen.« 271
Es gab Dutzende von Anklagen – gegen Demonstranten. Die Opfer wurden mit einer Lawine von strafrechtlichen Beschuldigungen überzogen. Zum Beispiel behauptete die Polizei, Demonstranten hätten Molotowcocktails in der Diaz-Schule versteckt. Sie zeigten sogar welche vor. Aber durch einen glücklichen Zufall konnte bewiesen werden, dass die Molotowcocktails erst während des Polizeiüberfalls von der Polizei selbst in der Schule versteckt worden waren. Ein hoher Polizeibeamter widersprach seinen Kollegen, denn er erkannte die Brandsätze wieder, weil er sie selbst vorher – und an einem ganz anderen Ort – beschlagnahmt hatte.
Elf lange Jahre dauerte es, und es ist nur der Arbeit hartnäckiger Opfer, ihrer Verteidiger, einiger Journalisten und italienischen Juristen wie dem Staatsanwalt Enrico Zucca zu verdanken, dass einige der Täter überhaupt auf die Anklagebank kamen. Zucca reiste in verschiedene europäische Länder und sprach mit den Opfern. Er und sein Team sammelten Hunderte von Zeugenaussagen, sie analysierten 5 000 Stunden Videomaterial und Tausende von Fotografien. Die Ergebnisse fasste Zucca in einem 260-seitigen Bericht zusammen, an dem auch die italienische Justiz nicht mehr vorbeikam.
Nach Jahren konnten alle Vorwürfe gegen die Demonstranten – die Qual und Folter nicht gerechtfertigt hätten – zurückgewiesen werden. Aber nur einige Verantwortliche wurden bestraft und kamen letztlich mit geringen Strafen davon. Die Opfer waren fassungslos. Nur weil das italienische Strafrecht keinen Folterparagraphen habe, schrieben die Staatsanwälte, sprächen sie nicht vonFolter. Amnesty International bezeichnete die Vorgänge als die »größte Außerkraftsetzung von demokratischen Rechten in einem westlichen Land nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs«. 272
Mehr als elf Jahre lang kämpften die Opfer der Torturen in der Diaz-Schule für die Verurteilung der Täter. Am 13. November 2008, nach 200 Verhandlungstagen, waren nur noch 29 angeklagte Polizisten übrig, 16 wurden freigesprochen, 13 verurteilt. Die 13 erhielten zusammen nur 35 Jahre und 7 Monate Haft, wenig mehr, als für die jungen Leute vom Göteborger Infotelefon gefordert worden war. Zu Freiheitsstrafen von zwei bis vier Jahren verurteilt wurden die Mitglieder der 7. Abteilung der mobilen Einsatztruppe in Rom und die zwei Beamten, die Molotowcocktails in der Diaz-Schule deponiert und den Demonstranten untergeschoben hatten. Die gesamte Führungsriege der Polizei, die für den Einsatz verantwortlich war, wurde freigesprochen. Praktischerweise hatte die Regierung Berlusconi 2005 eine Amnestie verkündigt, die für alle galt, die unter drei Jahren Haft erhielten. Aber das war noch nicht die letzte Instanz.
Bei den Verfahren gegen die Verantwortlichen im Fall der Kaserne in Bolzaneto waren 45 zum Großteil hochrangige leitende Polizisten wegen Beweisfälschung, Körperverletzung und Folterung von Demonstranten angeklagt. Dreißig wurden im Juli 2008 freigesprochen, 15 Angeklagte zu Gefängnisstrafen von fünf Monaten bis fünf Jahren verurteilt. Fünf Jahre Haft erhielt der Kommandant der Kaserne. Der Richter sagte, er hätte gegen manche Angeklagte gerne höhere Strafen ausgesprochen und bedauerte, dass es im italienischen Strafrecht den Tatbestand der Folter nicht gibt.
Die meisten der mehreren hundert Polizisten, Carabinieri und Vollzugsbeamten, die in der Diaz-Schule und in Bolzaneto im Einsatz gewesen waren, gingen vollkommen straffrei aus. Es konnte vor Gericht auch nicht nachgewiesen werden, dass es eine Befehlskette gab, dass also führende Politiker, Minister oder Staatssekretäre, Militär-, Geheimdienst- oder Polizeichefs usw. die Befehle gegeben hatten. Selbstverständlich ist allen kritischen Beobachtern klar, dass Polizisten nicht einfach ohne Order so handeln, wie sie handelten. Was es aber offensichtlich gab – und gibt –, ist eine faschistische Kultur, wenigstens innerhalb der italienischen»Sicherheits«-Kräfte und in Teilen des Staatsapparates, die durch Straffreiheit belohnt und gestärkt wurde.
Alle angeklagten Polizisten des G8-Gipfels wurden erst einmal befördert. Nur die Laufbahn der wenigen Polizisten, die aufklären wollten und bereit waren, auch gegen ihre »Kollegen« auszusagen, stockte. Viele verantwortliche Polizeioffiziere
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