Zeit für Eisblumen
erbeten und erst einmal eine Nacht über alles schlafen können. Natürlich waren seine Vorwürfe ungeheuerlich gewesen. Aber ich hatte sein Vertrauen missbraucht. Auch wenn ich Evas Geld nicht für mich ausgegeben hatte, hätte ich es schlicht und einfach niemals annehmen dürfen. Ich überlegte, ob ich Sam vielleicht anrufen, den ersten Schritt zu einer Versöhnung machen sollte, aber seine verletzenden Worte von vorhin hielten mich davon ab. Ich fühlte mich merkwürdig wund und hohl. Mein Herz pochte fest gegen meinen Brustkorb, doch nicht schnell und unkontrolliert, sondern langsam. Und es schmerzte bei jedem Schlag.
„Jetzt wäre ein geeigneter Moment für eine Panikattacke“, dachte ich. Aber nichts geschah. Im Gegenteil! Zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich mich klar. Die Watte war aus meinem Kopf verschwunden und ich sah die Welt auch nicht mehr wie durch die Scheiben eines Aquariums hindurch. Ich dachte an Sam und unsere erste gemeinsame Nacht in Spanien. Ich sah die Sterne über mir, spürte den Wind auf meinem Gesicht und war traurig über die Chance, die wir nicht genutzt hatten.
Die Nachricht, dass Sam und ich uns getrennt hatten, verbreitete sich schneller als ein Ebolavirus. Am nächsten Nachmittag erschien Lilly, kurz darauf folgte ihr Helga. Die Anteilnahme der beiden rührte mich zwar, aber am allerliebsten wäre ich allein geblieben und hätte die ganze Angelegenheit verdaut. Doch ich war zu schwach, um vor ihnen zu fliehen, und so saß ich wie eine alternde Diva in eine Decke gehüllt auf der großen Hollywoodschaukel im Wintergarten, unfähig, mich zu rühren, und beantwortete wie im Repeatmodus ihre immer gleichen Fragen.
Gegen Abend trudelte völlig unerwartet Mia ein. Bei ihr jedoch war von Anteilnahme wenig zu spüren. Im Gegenteil, sie schien sichtlich entzückt über meinen Zustand.
„Du siehst beschissen aus“, begrüßte sie mich erfreut. „Deine Haut ist ganz grau.“
„Ich fühle mich auch grau.“ Ich war zu schwach, um mich gegen ihre Angriffe zu wehren. Und sie waren mir egal.
Letztendlich war ich es nämlich gewesen, die den ersten Schritt gemacht und Sam angerufen hatte. Doch unser Gespräch dauerte kaum 30 Sekunden und seine Stimme klang kalt wie ein Eiswürfel. Selbst gegen meine Irlandreise schien er keine Einwände mehr zu haben. Auf jeden Fall war er nicht darauf eingegangen, als ich ihm anbot, sie abzusagen. Gegen den Schmerz, der seitdem in meinem Inneren wütete, waren Mias Äußerungen nur winzige Pikser.
„Und deine Haare sind nicht gewaschen.“ Mia hob kurz eine meiner blonden Strähnen an. „Mein Gott, es muss dir echt schlecht gehen. Sam hat dich wirklich verlassen?“
„Ich habe ihn verlassen.“
„Das Ergebnis ist das gleiche. So einen findest du nicht mehr.“ Sie grinste triumphierend.
„Ach, lass mich doch in Ruhe.“ Ich wedelte mit der Hand vor ihr herum, als wollte ich eine Fliege verscheuchen.
„Natürlich würde Fee wieder so einen finden. Aber das muss sie gar nicht, denn ich bin mir sicher, dass sie und Sam sowieso wieder zusammenkommen.“ Helga setzte sich neben mich auf die Schaukel und nahm mich in den Arm. „Sie brauchen nur eine kleine Pause.“
„Das glaube ich auch.“ Lilly nickte. „Sam und du, ihr gehört zusammen. Ihr seid wie Harry und Sally.“
„Eher wie Harold and Maude.“ Mia kicherte.
Lilly warf ihrer Zwillingsschwester einen zornigen Blick zu. „Ihr kennt euch schon so lange. So etwas ist nicht einfach vorbei.“ „Genau“, bekräftigte Helga. „Wie lange war Sam in dich verliebt, bevor ihr zusammengekommen seid? Zehn Jahre?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Und wie lange willst du bei Milla und Papa wohnen bleiben?“, erkundigte sie sich.
„Nur bis Mitte Januar. Dann muss ich wieder arbeiten.“
„Das sind noch sieben Wochen.“ Mia rollte mit den Augen. „Ich würde sterben, wenn ich es so lange in diesem Kaff aushalten müsste. Was willst du den ganzen Tag machen? Mit Bernhard und Bianca joggen gehen?“ Sie zeigte auf das Pärchen, das gerade dabei war, das Nachbarhaus zu verlassen. Beide hatten einen praktischen Kurzhaarschnitt und trugen wie immer den gleichen blauen Adidas-Sportanzug. Eigentlich hießen sie Bernhard und Christine. Da Mia sie aber hartnäckig mit Bernhard und Bianca, den Mäusen aus dem gleichnamigen Walt-Disney-Film, betitelte, hatte sich diese Bezeichnung bei uns allen festgesetzt, und wir mussten höllisch aufpassen, die junge Frau nicht wirklich mit Bianca
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