Zeit für Eisblumen
traumlosen Schlaf gesunken.
„Was möchtest du?“ Milla blinzelte mich verschlafen an und zog sich ihre Ohropax heraus. Ich stand mit Paul auf dem Arm vor unserem Bett.
„Ich muss mir die Füße vertreten. Mein Rücken tut weh. Kannst du Paul übernehmen?“
„Jetzt schon.“ Milla tastete auf dem Nachtschränkchen nach ihrer Armbanduhr. „Es ist erst sieben Uhr.“ Stöhnend ließ sie sich zurück auf ihr Kissen sinken.
„Wann war dein Rendezvous mit dem schönen Bennett denn gestern Nacht beendet? Ich habe gar nicht gehört, wie du hochgekommen bist.“ Provozierend blickte ich sie an.
„Um zwei Uhr.“ Sie gähnte. „Hast du schon gefrühstückt?“
„Nein. Ich habe keinen Hunger. Also? Kann ich Paul bei dir lassen?“
„Natürlich. Aber warum hast du dich für deinen Stadtbummel denn so schick gemacht?“ Sie musterte mich von oben bis unten. „Ist das Kleid nicht ein wenig zu dünn für diese Jahreszeit?“
„Nein, ich passe mich nur den irischen Gegebenheiten an. Gestern Abend in der Stadt habe ich mehrere Frauen mit einem kurzen Rock und ohne Strumpfhosen herumlaufen sehen.“
„Und diese Schuhe! Bist du sicher, dass du damit längere Zeit laufen kannst?“ Ihre Augen blieben an meinen hochhackigen Stiefeletten hängen.
„Zu dem Kleid kann ich schlecht UGG Boots oder Gummistiefel tragen und etwas anderes habe ich nicht dabei.“
„Du musst es wissen.“ Milla zuckte die Achseln. „Reich mir meinen Enkel.“ Sie streckte die Arme nach Paul aus, der fröhlich zu krähen begann. „Guten Morgen, mein Schätzchen. Gehst du mit mir frühstücken?“
Hatte Galway am Abend noch geglänzt und gefunkelt, wirkte es im fahlen Licht des frühen Morgens müde und blass. Die gestern so festlich aussehenden Weihnachtsbäume an den bunten Hausfassaden ähnelten dürren Gerippen, ihre Lichterketten flatterten lustlos im Wind. Vor vielen Pups parkten Lieferwagen und Fahrer luden Bierfässer, Getränkekästen oder Kartons mit Lebensmitteln aus. Ansonsten war die Fußgängerzone menschenleer.
Da es leicht nieselte, spannte ich meinen Schirm auf, zog meinen Schal fester um den Hals und machte mich auf den Weg ins Ungewisse. Anfangs hatte ich lange an einer passenden Ausrede herumgetüftelt, die erklärte, warum ich nach so langer Funkstille plötzlich vor Davids Tür stand. Ein Auslandssemester in Irland, der Besuch bei einer Freundin. Ich zog es sogar in Erwägung, ihm vor dem Wohnheim aufzulauern, ihn zu verfolgen, um ihm in der Stadt rein zufällig zu begegnen. Natürlich wäre es ein großer Zufall gewesen. Aber seitdem ich während meines ersten und einzigen Urlaubs in Gran Canaria auf der Strandpromenade meinem Exfreund samt neuer Freundin in die Arme gelaufen war, wusste ich, dass solche Zufälle vorkamen. Trotzdem hatte ich mich dazu durchgerungen, David die Wahrheit oder zumindest eine abgeschwächte Version davon zu erzählen, sollte er noch in der Stadt wohnen. Ich machte eine Rundreise durch Irland, und da ich wusste, dass er in Galway studierte, wollte ich ihm einen kurzen Besuch abstatten.
Auf googlemaps hatte der Weg zu dem Wohnheim gar nicht so weit ausgesehen, es befand sich nur knapp anderthalb Kilometer von der Innenstadt entfernt, doch auf hohen Absätzen und im Slalom um Pfützen herum erwies er sich doch zeit- und kräfteraubender als zunächst angenommen. Mit schmerzenden Füßen und durchtränkten Schuhen erreichte ich schließlich nach einer Dreiviertelstunde Fußmarsch das Corrib Village.
Sofort stieg in mir Erleichterung darüber auf, nicht mehr studieren zu müssen, denn die langen, einstöckigen Gebäude mit den winzigen Fenstern wirkten wenig einladend. Eine Zeit lang irrte ich erfolglos zwischen den Häusern herum, um das Appartement mit der Nummer 103 auszumachen, bevor ich beschloss, mir in einem blauen Häuschen mit der Aufschrift „Shop“ Hilfe zu holen. Über ein paar Treppenstufen betrat ich einen kleinen Laden, hinter dessen Kasse ein sommersprossiges Mädchen saß und in einer Modezeitschrift blätterte. Die Glocke über der Tür ließ ein rostiges Klingen ertönen und die Irin fuhr erschrocken zusammen. So früh am Morgen bekam sie anscheinend selten Kundschaft. Nachdem sie mehrere Male „Oh my God!“ gestammelt hatte, kramte sie unter ihrer Kasse in einer Schublade herum und holte einen Plan hervor, auf dem alle Gebäude des Corrib Village eingezeichnet waren. In der rechten oberen Ecke, im Appartementkomplex F, machte sie ein Kreuz und tippte mit dem
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