Zeit für Eisblumen
düsterer Miene.
„Und Sie würden uns wirklich mitnehmen? Paul, mich, meinen Koffer, den Kinderwagen und … meine Mutter.“ Ich zeigte zur Bushaltestelle.
„Natürlich. Wir haben einen Van. Dort würde noch viel mehr hineinpassen.“
Sie nahm mir mein Gepäck ab. Ich schob Paul über die Straße auf das Auto zu. Die junge Frau, die sich mir als Maureen vorgestellt hatte, öffnete die Heckklappe und half mir mit ihrem Mann Simon beim Einladen. Er hatte ebenfalls dunkle Haare und erinnerte mich mit seinem kantigen Gesicht an Brad Arnolds von 3 Doors Down.
„Ein hübsches Paar“, dachte ich ein wenig neidisch.
Ich drehte mich zu Milla um und winkte ihr zu.
„Möchtest du immer noch hierbleiben? Oder fährst du mit uns mit in Richtung Galway?“
In den Van passte tatsächlich mehr hinein, als sein Äußeres vermuten ließ. Nicht nur, dass in der Abladefläche zwei weitere Sitze versteckt waren, unter dem verbleibenden Kofferraum gab es auch ein zusätzliches Staufach, in das Simon meinen Kinderwagen hineinwuchtete. Einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, den Mini gegen ein solches Gefährt einzutauschen, doch dann stellte ich mir vor, wie ich an einem strahlend schönen Sommertag mit dem Van durch die Münchner Innenstadt fuhr. Kein Dach, das ich hochklappen konnte, keine neidischen Blicke, die mich verfolgten, und auf der hinteren Scheibe ein Aufkleber mit der Aufschrift „Paul an Bord“. Nein! Ich war definitiv kein Typ für eine Familienkutsche. Lieber quälte ich mich weiterhin mit den Sprudelkästen ab und quetschte sie auf die Rückbank.
Paul und ich setzten uns zu dem kleinen Kind, das Maureen auf dem Arm getragen hatte, Milla nahm zusammen mit ihrem Koffer im hinteren Bereich des Autos Platz und wir fuhren los.
„Das ist Robbie“, stellte uns Maureen ihren Sohn vor, der friedlich in seiner Autoschale saß und mit einem Stoffbuch spielte.
Ich warf einen Blick hinein und Robbie lächelte mir zu. Obwohl er schon mindestens anderthalb Jahre alt war, besaß er noch keinen einzigen Schneidezahn. Dafür waren die unteren Backenzähne bereits durchgebrochen. Er hatte ein rundes Gesicht, einen flachen Hinterkopf und leicht schräg stehende Augen. Robbie hatte das Downsyndrom.
„Hallo“, begrüßte ich ihn unsicher und streichelte seine Hand.
Er strampelte mit seinen Armen und Beinen.
„Er ist so fröhlich. Unser kleiner Prinz Charming“, sagte Maureen lächelnd. „Und vor allem mit blonden Frauen versteht er sich gut.“ Sie griff nach hinten und kitzelte ihren Sohn am Fuß. „Nicht wahr. Du bist jetzt schon ein Herzensbrecher.“
Robbie gurgelte entzückt und strampelte noch heftiger. Ich zog Paul an mich. Er drehte den Kopf zu mir hoch und sah mich aus seinen runden, blauen Augen an.
„Da!“ Er streckte mir seine Stoffkuh entgegen. Ich wackelte ein wenig mit ihr hin und her, bevor Paul sie mir mit beiden Händen abnahm und begeistert in ihre Nase biss. Ich ließ meine Blicke zwischen den Kindern hin und her schweifen und auf einmal fiel mir Dirk ein. Ich hatte schon ewig nicht mehr an ihn gedacht.
Dirk war ein Junge aus meinem Tanzkurs, in den ich mit 15 verliebt war. Er ging auf ein anderes Gymnasium als ich, war freundlich, intelligent und mehrere Mädchen schwärmten für ihn. Ich schien ihm zu gefallen und an einem Nachmittag nahm er mich mit zu sich nach Hause. Seine Mutter lag mit seinem älteren Bruder auf dem Boden im Wohnzimmer und spielte mit Legosteinen. Er hatte den gleichen gedrungenen Körper, das gleiche breite Gesicht und die gleichen schräg stehenden Augen wie Robbie.
Nach diesem Besuch wich ich Dirk so gut wie möglich aus. Ich wollte nicht mit ihm und seinem behinderten Bruder zusammen gesehen werden. Stattdessen ging ich kurz darauf mit Tom, der immer die neuesten und coolsten Schuhe und Kleider trug und stolzer Besitzer eines roten Mopeds war. Jahre später, ich hatte Dirk längst aus den Augen verloren, erzählte mir Helga, dass sie in der Zeitung die Todesanzeige seines Bruders gesehen hatte. Er war mit Mitte zwanzig gestorben, an einem Herzfehler, was wohl bei Menschen mit Downsyndrom recht häufig vorkam. Auch das Risiko, an Leukämie zu erkranken, lag bei dieser Behinderung ungleich höher, hatte ich einmal in einer Zeitschrift gelesen. All das musste Maureen auch wissen. Und sie musste sich darüber im Klaren sein, dass ihr Kind in der Öffentlichkeit angestarrt wurde, dass es für immer ihre Hilfe benötigte und nicht mit zwanzig von zu Hause
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