Zeit für Eisblumen
nach Pauls Geburt, die Panikattacken, der berufliche Zwangsurlaub, die Trennung von Sam und meine Familie, die auseinanderzubrechen drohte. All das trieb der Wind davon und löste es an der Horizontlinie auf.
Ich schloss die Augen.
„Kennen Sie das Cottage von Heinrich Böll?“
Die Realität hatte mich schneller eingeholt, als mir lieb war. Ich saß auf der Rückbank von Karens altem VW-Bus, den sie uns als Kalle vorgestellt hatte, und wurde auf dem engen Serpentinenweg, der sich den Berg hinauf und hinab schlängelte, unsanft von rechts nach links geschleudert.
„Natürlich. Es liegt nur ein paar Kilometer von hier entfernt, in Doogort.“
„Ich weiß. Meine Tochter und ich waren heute Morgen dort und haben versucht, es zu finden. Aber die Wegbeschreibung der Einheimischen war äußerst konfus.“
Karen lachte. „Es gibt wohl eine Übereinkunft, dass die Schriftsteller, die dort an ihren Projekten arbeiten, regelmäßig kostenlose Lesungen geben, wenn die Einheimischen ihnen dafür im Gegenzug die Touristen vom Hals halten. Hier draußen wird nicht allzu viel geboten und kaum jemand auf Achill will sich die Chance auf ein bisschen Kultur kaputtmachen lassen. Ich war selbst erst vor ein paar Wochen auf einer solchen Veranstaltung.“
„Siehst du! Ich hatte recht.“ Ich bedachte Milla mit einem überlegenen Blick.
Doch sie ging nicht darauf ein.
„Sie wissen also, in welcher Straße sich das Cottage befindet?“, bohrte sie nach.
„Natürlich.“ Karen nickte. „Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich Sie vorbeifahren. Soll ich Ihnen den Weg dorthin aufzeichnen? Vielleicht kommen Sie wieder?“
Milla nickte triumphierend. „So leicht lasse ich mich von den Iren nicht austricksen“, sagte ihr Blick.
Als wir gegen fünf Uhr wieder im Hotel ankamen, wurden wir von einem quengeligen Paul empfangen. Obwohl er durch die Tele-Zwerge Fremdbetreuung gewöhnt war, merkte man ihm seine Erleichterung deutlich an. Er versteckte den Kopf in meiner Halsbeuge und krallte sich mit beiden Händen in meiner Fleecejacke fest. Selbst beim Abendessen, das wir in dem angrenzenden Fischrestaurant einnahmen, weigerte er sich, sich in seinen Kinderstuhl zu setzen.
Milla zückte ihr Notizbuch. „Lass uns zusammenrechnen, wie viel wir heute gespart haben.“
„Führst du immer noch deine Privatfehde gegen den irischen Staat?“
„Natürlich.“ Milla nickte hoheitsvoll. „Was glaubst du, hätte die Fahrt mit dem Taxi von Doogort zur Keem Bay und von dort nach Doagh gekostet?“
„Fünfundzwanzig Euro“, behauptete ich, ohne groß darüber nachzudenken.
„Und das Mittagessen haben wir durch Karens Apfelstrudel auch gespart. Dreißig Euro wären es doch mindestens gewesen.“
„Mindestens“, sagte ich ernsthaft.
„Gut.“ Sie notierte die Summen in ihrem Buch. „Die Kosten für die Busfahrt von 52,60 Euro haben wir bereits herausgeholt und sogar ein bisschen Gewinn gemacht.“
„Morgen bekommst du bestimmt noch mehr Gelegenheit, Geld einzusparen. In Loughrea sind die Hotels viel billiger als hier.“
Milla zog beide Augenbrauen hoch. „Wir fahren nach Loughrea?“
„Ja. Ich habe an der Rezeption bereits Bescheid gesagt, dass wir auschecken.“
„Ach. Es wäre nett gewesen, wenn du unsere weitere Reiseroute mit mir abgesprochen hättest.“
„Das tue ich doch gerade. Wir fahren nach Loughrea. Die Stadt ist bei Touristen wegen ihrer zentralen Lage sehr beliebt. Von dort aus können wir weitere Ausflüge unternehmen.“
„Und was ist, wenn ich morgen noch einmal nach Doogort fahren möchte? Schließlich habe ich jetzt die genaue Adresse des Böll-Cottages.“ Milla tippte mit ihren Fingernägeln ungeduldig auf dem Tisch herum.
Ich verzog das Gesicht. „Du würdest den ganzen weiten Weg noch einmal fahren, nur wegen dieses Häuschens?“
„Nein. Aber es hätte sein können. Außerdem habe ich morgen Vormittag noch einen Termin bei der Massage.“
„Aber um halb neun fährt der Bus nach Galway ab.“
„Dann wirst du auf den nächsten Bus warten oder ohne mich fahren müssen.“ Sie blickte mich provozierend an. „Dieser David muss ja ein wirklich toller Kerl sein, wenn du dazu bereit bist, ihm durch halb Irland zu folgen.“
Der Bus stand bereits da, als Milla, Paul und ich am nächsten Mittag um kurz nach halb zwölf die Mill Street in Westport erreichten. Eine zierliche Frau mit dunklen Locken stieg gerade aus. Sie trug einen kleinen Jungen auf dem Arm. Als sich unsere Blicke
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