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Zeit für Eisblumen

Zeit für Eisblumen

Titel: Zeit für Eisblumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Koppold
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den Steinkreuzen zu entziffern. Doch sie waren so verwittert und mit Moos überzogen, dass es mir nicht gelang. Lediglich ein halbkreisförmiger Stein im hinteren Bereich des Friedhofs war überraschend gepflegt. Er stand unter einem großen Baum und der Boden um ihn herum war von Flechten und Unkraut befreit. An seiner linken Seite lehnte ein Grablicht, in dem eine kleine Flamme vor sich hin flackerte. Ein Säugling lag hier begraben. Geburts- und Todesdatum waren gleich. Er war vor mehr als sechzig Jahren gestorben und dennoch schien es jemanden zu geben, der sich noch an ihn erinnerte.
    Ich blickte auf das kleine Grabmal, dachte an Paul, dachte an Robbie und längst verschüttet geglaubte Worte kämpften sich nach oben …
    „Ich kann es nicht verstehen.“ Die Stimme meiner Mutter dröhnte in die Stille. „Du bist gesund, dein Kind ist gesund, du hast einen netten Freund und eine schöne Wohnung. Dir geht es doch bestens. Was erwartest du denn vom Leben?“
    Ich saß neben Milla im Auto und starrte mit leeren Augen auf die Straße vor mir, meine Lippen blieben verschlossen. Ich wollte nichts sagen und ich konnte auch nicht. Denn mir ging es nicht bestens. Und ich war nicht gesund.
    Um mich wach zu rütteln, erzählte sie mir von einer ihrer Patientinnen, die ihren Sohn ebenfalls Paul genannt hatte. Irgendwann im Laufe der Schwangerschaft hatte diese Frau erfahren, dass ihr Kind so schwer behindert war, dass es niemals überleben konnte. Vielleicht würde es bei der Geburt sterben, im günstigsten Fall eine Woche danach. Für eine Abtreibung war es noch nicht zu spät. Aber die Frau entschied sich dafür, ihr Kind zu behalten.
    „Auch wenn es nur fünf Minuten auf der Welt ist, es ist sein Recht, diese fünf Minuten zu leben“, hatte sie Milla erklärt.
    Ihr Paul war 40 Minuten nach der Geburt in ihren Armen eingeschlafen, drei Tage, bevor ich mit Wehen ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
    Nachdem Milla geendet hatte, sah sie mich an. Ein stummer Vorwurf lag in ihren Augen. Ich überlegte, ob ich irgendeine Reaktion zeigen, vielleicht sogar eine Träne herausquetschen konnte, doch in mir war alles vertrocknet und leer. Und so saß ich da, starrte auf den Zeiger meiner Armbanduhr, der in meinem früheren Leben rasant seine Runden gedreht hatte, die Arme fest um meinen Oberkörper geschlungen und fragte mich, wie ich die nächsten Tage, Stunden, Minuten überstehen sollte.
    Am gestrigen Tag und heute waren so viele Erinnerungen auf mich eingeprallt, dass mir der Kopf schmerzte und ich froh war, als wir kurz darauf den kleinen Bahnhof von Clifden passierten und in den Bus steigen konnten. Er würde garantiert abfahren, hatte der Fahrer mir versichert, als ich unsere Fahrkarten kaufte. Zum Abschied schüttelte ich Simon die Hand und drückte Maureen und Robbie fest an mich. Ich wünschte ihnen alles Gute und nahm mir vor, das Internet nach einem Lebenszeichen von Dirk zu durchforsten.
    Auch in Galway erreichten wir problemlos den Anschlussbus. Um kurz vor vier sah ich in der Ferne den spitzen Kirchturm von Loughrea vor uns auftauchen.
    „Endlich!“ Milla atmete auf und rieb sich ihren Nacken. „Von dieser ganzen Sitzerei tut mir der Rücken weh. Können wir zu Fuß zu unserem Hotel laufen oder brauchen wir ein Taxi?“
    Ich räusperte mich. „Wir müssen noch auf einen Anschlussbus warten.“
    „Auf einen Anschlussbus.“ Sie zog eine Augenbraue nach oben. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass Loughrea so groß ist.“
    „Wir übernachten auch nicht hier.“
    Ihre andere Augenbraue schnellte ebenfalls in die Höhe. „Wo übernachten wir dann?“
    „Ich habe uns eine Bed-and-Breakfast-Pension in Kylebrack gebucht. Das liegt zehn Kilometer von hier.“
    Milla sah wenig begeistert aus. „Eine Bed-and-Breakfast-Pension”, wiederholte sie gedehnt.
    „Sie ist viel billiger als die Unterkünfte in Loughrea. Du wolltest doch unbedingt sparen“, fügte ich hinzu.
    „Aber doch nicht am Hotel. Was gibt es denn alles in Kylebrack zu sehen?“ Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Reiseführer. „Im Register kann ich es gar nicht finden. Ist der Ort groß?“
    „Auf googlemaps hat er zumindest groß ausgesehen.“ Ich schaute unbehaglich nach unten. „Lass uns zur Haltestelle gehen!“

    Schwungvoll kam der Bus in einer riesigen Pfütze zum Stehen und ein Schwall Wasser ergoss sich über unsere Füße. Paul schimpfte empört aus seinem Kinderwagen heraus, denn auch er hatte ein paar Spritzer abbekommen. Der

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