Zeit für Eisblumen
„Und die andere“, er grinste, „muss auf dem Esel reiten.“
Milla und ich sahen uns verunsichert an. Meinte er das ernst?
„Zur Not würde ich es machen“, flüsterte Milla. „Mir ist alles recht, solange ich nur möglichst bald ins Warme komme.“
„Nur ein Scherz.“ Der Mann lachte. „Ihr setzt euch auf den Kutschbock. Ich gehe nebenher.“ Er hievte unsere Koffer und den Kinderwagen auf die Holzscheite. „Wohin wollt ihr in Kylebrack?“
„Zur Hill Bar. Dort übernachten wir heute“, antwortete ich.
„Du hast uns in einem Pub einquartiert?“, zischte Milla.
„Es ist eine Pension. Wahrscheinlich war es früher ein Pub. Und sie hat im Internet gute Bewertungen bekommen.“
„Hast du dir auch angeschaut, von wem sie bewertet wurde?“ Milla schnaubte.
Die Fahrt mit dem Eselskarren schonte zwar unsere Füße, doch nicht unsere Nasen, Ohren und Hände. Unerbittlich fraß sich die Kälte durch meine Kleidung und schon bald hatte ich das Gefühl, auf dem zugigen Gefährt zum Eiszapfen zu erstarren. Ich öffnete den Reißverschluss meiner Jacke und wollte Paul darunter stecken, um sowohl ihn als auch mich zu wärmen. Doch er protestierte wild und wand sich aus meinem Griff heraus. Nach einigen Versuchen gab ich es auf.
„Dann musst du eben frieren, du kleines Ekel.“
Ich setzte ihn wieder auf meinen Schoß. Doch Paul schien in seinem Skianzug ausreichend vor Regen und Kälte geschützt zu sein. Fasziniert starrte er auf den Esel vor uns.
„Ei?“ Er hob die Augenbrauen und zeigte auf das verführerisch plüschige Fell des Tieres.
„Wenn wir da sind, darfst du ihn streicheln.“ Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Milla starrte mit eingefrorenen Gesichtszügen vor sich hin. Dem Bauern dagegen schien die Kälte ebenso wenig auszumachen wie meinem Sohn. Auf seinen krummen Beinen marschierte er vor uns her und pfiff ein Liedchen. Kurz nach der Hügelkuppe blieb er an einem hässlichen gelben Gebäude ohne jeden Charme stehen.
„Wir sind da.“
Über der Eingangstür wackelte ein Schild im Wind. Kein Zweifel! Wir waren an der Hill Bar angekommen.
„Ah, ihr seid die beiden Ladys, die heute bei mir übernachten“, begrüßte uns ein verlebt aussehender Kerl mit halblangen grauen Haaren. „Hattet ihr eine gute Anreise?“
Er schob uns in einen dunklen Flur, von dem aus eine schmale Holztreppe in den obersten Stock führte. Es roch nach Staub, Spinnweben und irgendetwas Angebratenem.
„Ganz wundervoll.“ Milla verzog das Gesicht.
Ich starrte ihn irritiert an. Der Typ sah eins zu eins aus wie Keith Richards, der Gitarrist der Rolling Stones.
„Frühstück gibt es morgens im Pub.“
Wir betraten einen düsteren Raum durch eine Seitentür. Der köstliche Bratenduft wurde stärker. Im vorderen Bereich befand sich eine langen Theke, an die eine Küche angrenzte, im hinteren Bereich konnte ich eine kleine Bühne erkennen. In unsystematischen Abständen hingen einzelne Weihnachtskugeln von der Decke. Wahrscheinlich waren sie genau dort aufgehängt worden, wo sich zufällig ein Haken befand. Eine Girlande mit Plastikeiszapfen und ein künstlicher Weihnachtsbaum unterstützten den verzweifelten Versuch, dem ansonsten kargen Raum etwas vom Geist der Weihnacht einzuhauchen.
„Habt ihr Hunger?“, fragte der Mann. „Ich habe mir gerade etwas zu essen gemacht. Aber es ist zu viel für mich allein.“
Milla strich hinter seinem Rücken verstohlen mit dem Zeigefinger über die Theke. Er blieb sauber.
„Ja.“ Sie lächelte schwach. „Etwas zu essen wäre fantastisch. Und ein warmes Bad.“
„Eine Badewanne haben meine Zimmer leider nicht. Aber Sie könnten zu mir rüberkommen, Lady.“ Er verzog seine Lippen spöttisch und zeigte durch die schmalen Fenster hindurch auf einen Hof, wo sich ein hässlicher quadratischer Holzanbau befand.
„Nein, danke“, meinte Milla steif. „Eine Dusche reicht völlig. In der Not tut es auch ein Waschbecken. Warmes Wasser werden Sie doch haben, oder?“, fügte sie spitz hinzu.
„Eine Dusche befindet sich auf dem Gang.“ Der Mann führte uns nach oben.
Im Gegensatz zu dem düsteren Eingangsbereich erwies sich unser Zimmer als hell und freundlich. Milla war hellauf begeistert, als sie eine altmodische Schminkkommode mit dreiteiligem Spiegel sah, die sich in einer Ecke des Raumes befand. Ein verschnörkelter Stuhl mit verblichenem Samtbezug stand davor.
„Solche Schminktische gibt es heutzutage überhaupt nicht mehr“, meinte sie
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