Zeit für Eisblumen
durchschaut. „Wir haben uns vor kurzem getrennt.“
„Macht es dir etwas aus?“, fragte David mitfühlend und ich sah ihn überrascht an.
„Manchmal“, antwortete ich. „Wir waren vier Jahre zusammen.“
„Ziemlich lange.“
„Ja. Ziemlich lange.“
„Hast du deinem Freund von unserem Treffen erzählt?“
Ich lachte auf. Treffen! Das war eine harmlose Bezeichnung für unsere gemeinsame Nacht. „Nein. Hat deine Freundin davon erfahren?“
„Ich war damals Single.“
„Und jetzt? Immer noch? Der einsame Cowboy, der mit seinem Pferd in den Sonnenuntergang reitet?“
David lächelte. „Immer noch.“
„Dabei hast du die Qual der Wahl, oder?“ Ich drehte mich um und schaute auf die Mädchenschar hinter uns. Lediglich ein kleinerer Junge, der auf einem weißen Pony mit schwarzen Punkten saß, nahm an dem Ausritt teil.
„Ich warte immer noch auf die Richtige“, meinte David lässig. „Bist du am nächsten Samstag noch da? Ich habe einen Auftritt in der Hill Bar. Und es wäre schön, dich mal ohne Gummistiefel zu sehen.“
Unsere Blicke trafen sich, mir fielen auf einen Schlag mindestens zehn schmutzige Dinge ein, die wir miteinander getan hatten, und ich musste meine ganze Körperspannung aufbieten, um nicht seitlich vom Pferd zu rutschen.
Die folgenden Tage liefen nach einem immer gleichen Rhythmus ab. Morgens nach dem Frühstück brach ich mit Paul und meiner Mutter zu einem längeren Spaziergang auf. Wenn wir zurückkamen, wartete stets ein köstliches Mittagsessen auf uns, Paul und ich hielten ein kleines Schläfchen und nachmittags ritt ich mit David und seinen Reitschülern aus und erkundete die Slieve Aughty Mountains. Eine besonders glückliche Figur machte ich auf dem Pferderücken zwar immer noch nicht, aber ich gewöhnte mich langsam an das Ruckeln und Schaukeln auf Harrys Rücken. Und auch wenn ich mir jeden Morgen schwor, an diesem Tag zu verzichten, quälte ich mich trotzdem mit schmerzenden Gliedern zur Slieve Aughty Rinding Ranch. Nicht nur wegen David, dessen Reithose ich mittlerweile akzeptierte. Auch wenn ich es nicht gern zugab: Ich hatte mich auch ein bisschen in Harry verliebt.
Einmal nahm uns Ian in seinem Pick-up mit in den Süden der Insel, nach Dingle, wo er einen Freund besuchte. Meine Mutter und ich schlenderten währenddessen am Strand entlang, um nach dem Delfin Ausschau zu halten, der angeblich in den Gewässern rund um den kleinen Küstenort wohnte, aber natürlich sahen wir ihn nicht.
„Das Cottage von Heinrich Böll, der Delfin – nichts ist einem hier vergönnt“, murrte Milla.
Auf der Rückfahrt hielt Ian ungeachtet der Temperaturen im Nationalpark Burren an, um ein Picknick zu machen, und breitete auf dem Tisch einer steinernen Sitzgruppe Ziegenkäse, Weißbrot und eine Thermoskanne mit drei Tassen aus. In eine dicke Decke gehüllt, mein Hintern durch ein Sitzkissen gewärmt, saß ich mit Paul auf dem Schoß neben meiner Mutter auf der Bank, ließ meinen Blick über die endlose Steinwüste gleiten, biss abwechselnd von dem Weißbrot und dem Käse ab und war trotz des kühlen Windes auf einmal ziemlich sicher, dass die Reise nach Irland eine richtig gute Idee gewesen war. Sogar an den alternden Hippie mir gegenüber hatte ich mich gewöhnt.
Als ich eines Morgens im Gewächshaus von Davids Mutter einen Kohlkopf fürs Mittagessen besorgen sollte, sah ich, dass an den Scheiben von Ians Pick-up Eisblumen wuchsen. Zarte Gebilde, zusammengesetzt aus Tausenden winziger Kristalle. Keiner glich dem anderen. Jeder perfekt in seiner Form. Warum war mir das vorher nie aufgefallen? Zu Hause gab es diese Dinger im Winter schließlich viel öfter als hier. Versonnen betrachtete ich die zerbrechlichen Kunstwerke minutenlang, bevor ich mich ins Auto setzte, das Gebläse anmachte und zuschaute, wie die filigrane Pracht innerhalb von wenigen Sekunden verschmolz.
Mir gefiel es in Irland. Und ich schaffte es erfolgreich, jeden Gedanken an zu Hause zu verdrängen. Und an Sam. Bis ich eines Tages auf das Display meines Handys schaute und mehrere unbeantwortete Anrufe sah.
„Fee.“ Die Stimme meines Vaters klang müde und unglaublich alt.
Wann war mir das erste Mal aufgefallen, dass er nicht der strahlende Held meiner Kindheit war, sondern ein ganz normaler Mensch?
„Hallo Papa.“
„Wie geht es euch?“
„Gut. Hat Milla dir das nicht erzählt?“
„Ich habe in den letzten Tage nicht mit ihr telefoniert.“
„Wir gehen viel spazieren. Schauen uns die Gegend
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