Zeit für Eisblumen
ganz begeistert zu sein.“
„Kannst du bitte aufhören, über mich zu sprechen, als ob ich nicht da wäre!“, giftete ich sie an.
„Fee reitet schon ganz gut“, meinte David mit einem Augenzwinkern zu mir. „Sie hat sich vorgestern sogar dazu überwunden und ist ein Stück getrabt.“
„Lassen wir das!“ Ich vertrieb das erniedrigende Bild von mir, wie ich mit schreckensbleichem Gesicht auf Harry saß und wie ein Gummiball auf und ab geschleudert wurde. Evas hämisches Grinsen verbannte ich gleich mit. Auf ein solches Experiment ließ ich mich nicht wieder ein. Der arme geschundene Harry hatte mir ebenso leidgetan wie mein armes geschundenes Hinterteil.
„Magst du tanzen?“, fragte David.
Ich konnte ihn mir beim besten Willen nicht mit schwingenden Hüften vorstellen und ich selbst hatte auch keine große Lust dazu. Doch da ich froh war, Milla entfliehen zu können, nickte ich erleichtert.
„Deine Mutter hat sich gut gehalten“, sagte er. „Man könnte sie für deine ältere Schwester halten.“
Ein großes Kompliment für mich war diese Aussage ja nicht.
Wir quetschten uns auf die Tanzfläche, wo ein paar von Davids Reitschülern die Arme umeinander gelegt hatten, zu dem Song „Sweet Home Alabama“ herumsprangen und mit ihren Füßen wild nach vorn kickten. Zuerst kam ich mir albern vor, mich mit der Dorfjugend auf der Tanzfläche herumzutreiben, doch dann hängte ich mich mit David bei einem kräftigen Jungen, der Liam hieß, ein und tat es ihnen nach. Normalerweise war ich beim Tanzen immer ziemlich gehemmt und wackelte meist nur ein wenig mit dem Hintern herum. Aber an diesem Abend nicht. Und auch David taute von Lied zu Lied mehr auf. Er hatte zu viel getrunken. Ich konnte es an seinen glasigen Augen sehen. Von seiner sonst so reservierten Haltung war nicht mehr viel zu spüren. Ich tanzte mit ihm, seiner Mutter, mit Milla, mit einer von den Zwillingen und schließlich auch mit einem älteren Herrn und dessen Frau. Ich machte nur Pausen, um kurz zur Theke zu gehen und einen Schluck von meinem Getränk hinunterzustürzen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Spaß gehabt hatte. Auch nicht, wann es mir das letzte Mal so egal gewesen war, dass mir im Toilettenspiegel eine derangierte und verschwitzte Gestalt entgegenblickte. Und so war ich total enttäuscht, als die Band das letzte Lied des Abends ankündigte. „My Immortal“ von Evanescence. Feuerzeuge wurden ausgepackt und jemand dimmte das Licht im Pub.
David kam auf mich zu. „Darf ich bitten?“, fragte er.
Ich nickte beklommen und legte meine Arme um seinen Hals. Er zog mich an sich. Ich verbarg meinen Kopf an seiner Schulter und wir bewegten uns langsam zum Takt der Musik. Ich nahm nichts mehr wahr, nur Davids Nähe, seine Berührungen und diese wundervoll traurige Musik, die uns führte.
Die Sängerin sang von Wunden, die nicht heilten, von einem Schmerz, der zu echt ist, und dass es zu viel gibt, was die Zeit nicht heilen kann. Ich lachte auf. Ja! Mit Wunden, die nicht heilten, kannte ich mich aus …
Letztendlich hatte mich die Depression genauso plötzlich verlassen, wie sie gekommen war. Einfach so! Nach zehn Wochen. An einem Tag im April. Die Sonne hatte geschienen und Sam und ich waren mit Paul im Englischen Garten spazieren gegangen. Abends nahm ich meinen Sohn in den Arm und gab ihm seine Milchflasche. Ich schaute auf ihn hinunter. Blickte in seine blauen Augen und sein rundes Gesicht. Sah, wie sich sein kleiner Mund bei meinem Anblick zu einem zahnlosen Lächeln verzog. Und ich erwiderte es.
Was die Veränderung bewirkt hatte, wusste ich nicht. Auch nicht, warum sie gerade in diesem Moment geschehen war. Vielleicht war es so, wie Dr. Mertens gesagt hatte: Wenn meine Hormone erst im Lot waren, würde ich mich besser fühlen. Vielleicht war nur noch ein einziges Hormon aus der Reihe getanzt und just in diesem Augenblick an die richtige Stelle gerutscht.
Aber es war mir auch egal, warum es mir auf einmal besser ging. Plötzlich empfand ich wieder Schmerz, Freude, Trauer und vor allem Liebe. Warum war mir vorher nicht aufgefallen, was für ein wundervolles Kind Paul war?
Mit Feuereifer machte ich mich daran, mein altes Leben aufzunehmen. Ich ging wieder arbeiten, trieb Sport, versuchte, die schreckliche Zeit so weit wie möglich hinter mir zu lassen. Keinen Gedanken mehr an sie zu verschwenden. Ich deckte die Wunde einfach ab und machte weiter. Aber irgendwann löste sich das
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