Zeit für Eisblumen
kurzen Moment schloss ich die Augen. Doch ein heftiger Windstoß ließ mich erneut frösteln.
„Komm! Lass uns noch ein bisschen herumgehen.“ Ich zog David in den hinteren Teil der Klosteranlage.
In München ging ich mit Paul häufig auf dem Alten Südfriedhof spazieren. Ich mochte die friedliche Stimmung, die dort herrschte, die flackernden Lichter und die efeubewachsenen Grabsteine. Hier in Clonmacnoise wollte sich die Ruhe, die mich sonst immer an diesen Orten überkam, jedoch nicht einstellen. Viele der Grabstätten waren überladen und mit Plastikblumen, bunten Engeln und allerlei anderem Nippes geschmückt. Mich irritierten die Fotos der Verstorbenen, die sich auf fast jedem Grab fanden und auf denen Personen zu sehen waren, die einem fröhlich entgegenstrahlten und die nichts von ihrem nahen Tod zu wissen schienen. Vor allem ein Grabstein ließ mich erschaudern. Ein Teddybär lehnte triefend nass dagegen. Auf dem Foto war ein Junge von etwa sechs Jahren abgebildet. Er hatte rotblonde Haare, Sommersprossen und eine riesige Zahnlücke. „Simon – beloved brother and son“ stand darunter. „Everytime I see your picture sweet memory recall of your face and your smile for one and for all.”
Der schwarze Vogel der letzten Nacht fiel mir ein.
„Was ist das für ein seltsames Ding?“ Um mich abzulenken, wies ich auf ein Gebäude, das nach einer Seite hin offen in der Mitte der Klosteranlage stand und aufgrund seiner modernen Architektur merkwürdig deplatziert in diesem ehrwürdigen Ambiente wirkte.
„Das ist eine Kapelle, die vor ein paar Jahren zu Ehren eines Papstbesuchs errichtet wurde. Möchtest du sie dir ansehen?“
Ich nickte. „Vielleicht wird es mir dort wärmer.“
Wir gingen hinein und setzten uns auf eine der Bänke, von denen man durch die Rundbogenfenster hindurch auf den Shannon blicken konnte. Sofort hörte der Wind auf an mir zu ziehen und zu zerren. Ein Regenbogen spannte sich über den Fluss. Ein richtiger Regenbogen, mit Anfang und Ende, wie ich ihn zuvor noch nie gesehen hatte. Ich überlegte, was ich mir wünschen könnte, doch mir fiel nichts ein. Meine Gedanken flogen wie trockene Blätter durch meinen Kopf und fielen in sich zusammen, wenn ich versuchte, sie zu fassen. David legte den Arm um mich. Doch ich machte mich steif. Das Bild des kleinen Simons wollte mir nicht aus dem Sinn gehen. Ein heftiges Zittern überlief mich und ich zog meinen Schal höher ins Gesicht.
„Komm, wir fahren!“, sagte David seufzend. „Momentan scheinst du für dieses kulturelle Highlight wenig Interesse aufzubringen. Lass uns in Athlone etwas essen!“
Ich nickte dankbar und im Auto entspannte ich mich wieder. David drehte die Heizung auf volle Stufe und meine Hände und Füße tauten langsam auf.
Athlone war weder besonders groß noch in irgendeiner Hinsicht besonders spektakulär, aber es hatte eine Fußgängerzone mit vielen kleinen Geschäften. Mit richtigen Geschäften! Wie ausgehungert stürzte ich auf die erste Schaufensterauslage zu. Ein Schuhgeschäft. Ein paar gefütterte Schnürstiefel winkten mir zu. Aus einer anderen Auslage lachte mich ein grob gestrickter Pullover an. Ein Haus weiter standen inmitten von glitzernden Christbaumkugeln Dutzende von Parfümflakons. Darüber hing ein Plakat, auf dem die britische Schauspielerin Keira Knightley den Chanel-Duft Coco Mademoiselle bewarb. Bis auf eine schwere Halskette und einen Hut, mit dem sie ihre Brüste bedeckte, war sie nackt. Obwohl ich wusste, dass Keira für das Foto perfekt ausgeleuchtet und darüber hinaus auch retuschiert worden war, verspürte ich Neid angesichts ihrer Makellosigkeit. Auch das Schuhgeschäft und die Boutique machten mich auf einmal traurig. Der Dermatologe, der mir immer meine Botoxspritzen injizierte, hatte mir vor ein paar Jahren gesagt, dass er es nicht verstehen könne, warum wir Frauen die Vogue oder die Elle kaufen, denn solche Zeitschriften würden uns nur unglücklich machen. Damals hatte ich darüber gelacht, aber jetzt wusste ich, wovon er sprach. In Kylebrack machte ich mir kaum Gedanken über mein äußeres Erscheinungsbild. Gut, ungeschminkt traute ich mich immer noch nicht aus dem Haus, aber die Kleider, die ich trug, waren mir mittlerweile herzlich egal. Nur warm und regendicht mussten sie sein. Hier in der weihnachtlich geschmückten Fußgängerzone von Athlone mit den funkelnden Schaufensterauslagen fühlte ich mich alt und grau und unzufrieden. Mir wurde bewusst, was ich alles nicht
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