Zeit für Eisblumen
könnte Eva sie für mich übernehmen.“
„Oh ja“, meinte ich zynisch, „das macht sie mit Sicherheit gerne.“
„Eva ist nur eine gute Freundin. Wir haben nichts miteinander.“
„Sieht sie das auch so?“
In dieser Nacht machte ich kein Auge zu. Paul hatte sich ein wenig erkältet. Er hustete und röchelte im Schlaf und warf sich unruhig herum. Auch ich wälzte mich ruhelos hin und her. Versuchte auf dem Rücken einzuschlafen, auf dem Bauch, auf der Seite. Doch keine Position brachte die erhoffte Entspannung. Von unten, aus dem Pub, drangen leise Geräusche zu mir herauf. Millas Bettseite war verwaist. Vielleicht würde sie es auch bleiben. Das Verhältnis von meiner Mutter und Ian war inniger geworden. Wenn die beiden glaubten, dass ich sie nicht beobachtete, sahen sie sich mit liebevollen Blicken an. Heute Mittag hatte ich Milla dabei erwischt, wie sie über Ians Rücken gestreichelt hatte. Sie schien ihn wirklich zu mögen.
Ich fühlte mich zerrissen. Auf der einen Seite hatte ich ein schlechtes Gewissen meinem Vater gegenüber. Vielleicht sollte ich ihm doch die Wahrheit sagen. Vielleicht sollte ich Milla mehr ins Gewissen reden. Ihr klar machen, dass ich es nicht gut fand, wenn sie sich hier in Irland mit Ian vergnügte und mein Vater zu Hause saß und die Tage bis zu unserer Rückkehr zählte. Auf der anderen Seite wusste ich, dass es nichts nützen würde, sich einzumischen. Ich wollte es auch nicht.
Als ich um halb drei immer noch nicht eingeschlafen war, gab ich es auf. Ich schwang mich aus dem Bett, zog dicke Socken an die Füße, warf mir einen Pullover über und setzte mich in meine Decke eingekuschelt auf das Fensterbrett. Es war angenehm warm, denn da der Pub so alt und zugig war, lief die Heizung Tag und Nacht.
Wenn ich in München nachts aus meinem Schlafzimmerfenster schaute, blickte ich in die leeren, dunklen Fensterhöhlen der gegenüberliegenden Wohnungen.
In Irland wurde mein Blick durch keine anonyme grau-braune Mauer gebremst. Unendlich weit dehnten sich Felder und Äcker vor mir aus. Ein schwarzer Scherenschnitt, über den sich ein tiefblauer, glitzernder Himmel spannte.
„Wie eine riesige Schale voller Sterne“, dachte ich versonnen und musste gleichzeitig über diesen kitschigen Vergleich lachen.
In diesem Moment schrie Paul laut auf und ich fuhr erschrocken herum. Ich schlich mich an sein Bett, um ihn zu trösten. Er wimmerte leicht. Sanft drückte ihm seine Stoffkuh in den Arm und strich ihm über die verschwitzten Locken. Ein schwarzer Vogel glitt heiser krächzend durch die Nacht und mich beschlich ein seltsames Gefühl der Angst.
Harry stand in der Nähe des Zaunes und graste, als ich mich nach dem Mittagessen auf zur Slieve Aughty Riding Ranch machte. Fröhlich wieherte er mir zu und kam auf mich zugetrottet. Ich tätschelte ihm seine Stirn und er knabberte an meiner Jacke herum.
„Ja, ja, du haariges Monster, ich hab einen dabei. Keine Angst.“
Ich schubste ihn weg und holte einen Apfel aus der Tasche, den ich ihm in sein weiches Maul schob. Schnell trat ich ein paar Schritte zurück, denn Harry hatte die Angewohnheit, beim Essen zu sabbern und seine Dankbarkeit deutlich zu zeigen, indem er ausgiebig seinen Kopf an meiner Schulter rieb. Aber heute war ich nicht besonders scharf darauf, mit Speichel und Apfelstückchen im Haar und auf meinen Kleidern herumzulaufen. Erst nachdem er den letzten Rest seines Zwischensnacks heruntergeschluckt hatte, näherte ich mich ihm, griff mit beiden Armen um seinen Hals und verbarg mein Gesicht in seiner zotteligen Mähne.
Mir wurde das Herz schwer, als ich an meine Rückkehr nach Deutschland dachte. Der Gedanke an das baldige Weihnachtsfest verursachte mir Magenschmerzen. Mit wem sollte ich feiern? Meinen Eltern würden sich trennen. In dieser Hinsicht machte ich mir nichts mehr vor. Und durch diese Trennung wäre Weihnachten wie eine Orange in zwei große Hälften geteilt – von denen keine nach Zimt und Sternanis duftete.
Auch auf die Arbeit hatte ich keine Lust. Nachdem Ulf mich in Zwangsurlaub geschickt hatte, lag der Tag wie eine öde Wüste vor mir. Jetzt konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, jemals um sieben aufzustehen und mich mit Paul auf den Weg zum Sender zu machen. Noch nicht einmal die Verleihung der Oscars lockte mich derzeit.
Ich genoss die Langsamkeit in Irland, die Tatsache, dass mein Tagesablauf nicht von früh bis spät durchgeplant war, ich nicht ständig unter Zeitdruck stand. Hier wachte ich auf
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