Zeit für Eisblumen
und meiner Mutter sehen. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa und schauten sich einen Fernsehfilm an. Leise öffnete ich die Haustür zum Pub und schlich mich in unser Zimmer. Die dumpfe Vorahnung, die mich gestern Nacht und heute Nachmittag auf dem Friedhof beschlichen hatte, ließ sich einfach nicht abschütteln. Ich musste mich vergewissern, dass Paul nichts passiert war. Dass es ihm gut ging. Doch der lag in seinem Bett, beide Ärmchen weit von sich gestreckt und atmete ruhig ein und aus. Selbst sein Schnupfen schien besser geworden zu sein. Ich griff durch die Stäbe des Babybettes nach Pauls Hand und streichelte sie.
Hatte alles bereits bei der Geburt angefangen, als ich mir wünschte, dass Paul in mir drin bleiben sollte, obwohl mich der Wehenschmerz fast in zwei Teile zerriss? Oder erst ein paar Stunden danach, als meine Zimmernachbarin fasziniert die Zehen ihres winzigen Sohnes betrachtete, ich dagegen apathisch im Bett lag und noch nicht einmal wusste, ob Paul wirklich zehn davon besaß? Vielleicht aber auch erst zwei Wochen später, als Sam mich nachts mit einer Brustentzündung und vierzig Grad Fieber in die Notaufnahme fahren musste. Aber es war unsinnig, ständig darüber nachzugrübeln, denn ich würde es nie herausfinden. Und auch nicht, ob man das Ganze an irgendeinem Punkt hätte abwenden können.
Mutlos schaute ich zur Decke und das Bedürfnis nach einem Glas Wein, das die Wirklichkeit in einen wohligen, warmen Schleier eintauchte, überwältigte mich fast. Nein. Ich würde nicht schon wieder Trost im Alkohol suchen. Das hatte ich in letzter Zeit zu oft getan.
Am nächsten Morgen wurde ich vom Licht der Sonne geweckt, das wie eine blassgelbe Pfütze auf meiner Decke lag. Ich zog mir das Kissen über den Kopf und hoffte, auf der Stelle tot umzufallen. Mir war schlecht, mein Kopf dröhnte. Warum hatte ich David die Wahrheit gesagt? Am liebsten hätte ich mich den Rest des Tages im Bett verkrochen. Doch Paul bestand darauf, aufzustehen.
„Ab, ab!“, kreischte er und zerrte energisch an seinem Schlafsack. Müde zog ich uns an, setzte ihn auf meinen Hüftknochen und ging nach unten.
Meine Mutter saß mit Ian beim Frühstück. Bei dem Geruch des getoasteten Brots und der Rühreier mit Speck drehte sich mir der Magen um und mir wurde schwarz vor Augen.
„Was ist mit dir?“ Milla stand erschrocken auf und nahm Paul aus meinem Arm. Sie schob mich auf ihren Stuhl.
„Mein Kreislauf. Ich habe nicht gut geschlafen. Schon zwei Nächte hintereinander nicht.“ Ich drückte meine Zeigefinger rechts und links gegen die Schläfen und wartete darauf, dass sich das schummerige Gefühl in meinem Kopf legen würde, ich wieder klar sehen konnte.
„Trink erst einmal einen Tee. Danach geht es dir sicher besser.“ Sie reichte mir eine Tasse und ich nahm sie dankbar an. Ich blies auf das dampfende Gebräu und trank vorsichtig einen kleinen Schluck. Sofort füllte wohlige Wärme meinen Magen.
„Geht es wieder?“, fragte Milla und beugte sich zu mir vor.
„Nein.“ Ich stellte die Tasse mit dem Tee ab und brach in Tränen aus. Mein Gesicht bedeckte ich dabei mit beiden Händen.
Milla sah mich besorgt an. Es musste über zwanzig Jahre her sein, dass ich das letzte Mal vor ihr geweint hatte.
„Was ist denn passiert? War der Ausflug mit David nicht schön?“
Ich schüttelte den Kopf und schluchzte erneut. Hilflos strich Milla mir über den Rücken. Erst nach einigen Minuten hatte ich mich soweit im Griff, dass ich sprechen konnte.
„Nein, der Ausflug war nicht schön. Und ich vermisse Sam. Aber der ist ja jetzt mit Monika zusammen.“ Ich presste energisch die Lippen aufeinander, um nicht erneut zu weinen. „Ich habe alles falsch gemacht.“
Paul kam auf mich zugetapst und streckte mir seine Arme entgegen, zum Zeichen, dass er auf meinen Schoß wollte. Ich zog ihn nach oben. Millas Mund klappte ein paar Male auf und zu, als würde sie nach passenden Worten suchen, sich aber nicht traute, diese auch auszusprechen. Dabei sah sie ein wenig aus wie ein nach Luft schnappender Karpfen. Ich kicherte hysterisch.
„Weißt du was, Fee?“, schaltete sich Ian ein, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Er klopfe mir aufmunternd auf die Schulter. „Wenn du Lust hast, machen wir beide einen Ausflug.“
„Einen Ausflug“, wiederholte ich wenig begeistert. „Wohin denn?“
„Zu einem Ort, an den ich immer fahre, wenn es so aussieht, als ob ich den Blick für das Wesentliche im Leben
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