Zeit für Eisblumen
verliere.“
Zehn Minuten später saß ich neben Ian in dessen Pick-up. An die Küste sollte es gehen. Mehr wollte er mir nicht verraten. Aber mehr musste ich auch nicht wissen.
Ian und ich sprachen nur wenig während der Fahrt, aber es war kein angespanntes Schweigen wie bei David und mir einen Tag zuvor. Ich war froh, nichts reden zu müssen, und so ließ ich Büsche, Bäume und Schafe an mir vorbeiziehen und wunderte mich einmal mehr darüber, dass in Irland kein Cottage einen richtigen Garten hatte. Ein paar Sträucher oder vielleicht auch eine Palme waren das Einzige, was die Iren rund um ihr Haus zu dulden schienen. Kunstvoll angelegte Blumenrabatten wie in Deutschland suchte man vergeblich.
Nach etwa einer Stunde bog Ian auf einen großen Parkplatz ein.
„Wo sind wir hier?“, fragte ich müde.
„An einer der Hauptsehenswürdigkeiten von Irland.“ Ian lächelte. „Aber da war ich doch gestern schon“, murmelte ich und ließ meinen Blick skeptisch umherschweifen. Ich konnte beim besten Willen nichts Interessantes entdecken. Ian fuhr ein Stück weiter und hielt vor einem Holzhäuschen an. Ein älterer Mann schaute freundlich aus dem Fenster. Diese ominöse Sehenswürdigkeit musste unglaublich spektakulär sein, stellte ich mit einem Blick auf die Preistafel fest. Fünf Euro. Und es musste nicht pro Wagen, sondern pro Person bezahlt werden.
„Du bist Rentner, ich Studentin“, sagte ich zu Ian. „Dann sparen wir ganze fünf Euro und Milla hat einen weiteren Posten, den sie auf ihre Liste setzen kann.“
Ian machte ein skeptisches Gesicht. „Ich bin aber erst 59.“
„Du gehst locker für 65 durch.“ Ich musste lachen, aber Ian wirkte wenig begeistert.
Der Mann an der Kasse erhob keine Einwände gegen unsere Altersangaben und ließ uns anstandslos passieren. Als ich die Tür des Wagens öffnete und ausstieg, wurde ich beinahe umgeschmissen. Denn der Wind blies so heftig, dass ich mich mit aller Kraft dagegen anstemmen musste, um meine Bodenhaftung nicht zu verlieren.
„Hoffentlich lohnt sich deine Sehenswürdigkeit“, murrte ich und versuchte verzweifelt, mit den dicken Handschuhen meine Haare unter die Kapuze zu schieben. Der Golfstrom hielt in diesem Winter einfach nicht das, was er versprach.
Zusammen mit Ian kämpfte ich mich über den Parkplatz und überquerte eine Straße, auf deren anderer Seite ein flaches Gebäude stand. Zahlreiche Touristen bahnten sich ihren Weg einen Hügel hinauf zu einer Aussichtsplattform. Dahinter stürzten Klippen mehrere hundert Meter in den Ozean.
„Herzlich willkommen an den Cliffs of Moher“, sagte Ian und breitete die Arme aus, „der höchsten Steilklippenformation von ganz Europa.“
Gegen meinen Willen war ich beeindruckt. Zu den Cliffs of Moher hatte er mich also geführt. Die hatte ich tatsächlich sehen wollen. Ich zeigte auf die Plattform. „Von dort oben muss man eine fantastische Aussicht haben.“
Ich wollte mich der Ameisenkolonne vor mir anschließen, doch Ian hielt mich zurück.
„Wir beide, wir werden abseits dieser ausgetretenen Pfade wandeln.“
Er zerrte mich nach links, wo sich die Klippen nicht weniger beeindruckend auftürmten. Hier führte kein gepflasterter Weg bis ganz nach oben, sondern nur ein schmaler Trampelpfad, der nur durch ein wenig vertrauenserweckendes Holzgeländer abgesichert wurde, und es wartete auch nirgendwo eine Aussichtsplattform auf den Besucher. Nachdem wir etwa fünfhundert Meter gegangen waren, versperrte uns ein Zaun mit einem Tor den weiteren Weg. „Durchgang verboten“ stand auf einem verwitterten Schild. Auf der anderen Seite schlängelte sich der Pfad furchteinflößend nah an dem unbefestigten Rand der Klippen nach oben. Spätestens an dieser Stelle waren die wenigen Touristen, die ebenso wie wir diesen Weg gewählt hatten, umgekehrt. Doch Ian machte sich daran, das Seil zu lösen, mit welchem das Tor verschlossen war. Ich griff nach seiner Jacke.
„Hier können wir nicht weiter! Das ist viel zu gefährlich. Der Weg ist überhaupt nicht abgesichert“, brüllte ich Ian entgegen und hielt mir mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht.
Er grinste. „Du wirst nicht über die Klippen geweht werden. Vertrau einem uralten Greis, der diesen Weg schon fünfzig Mal gegangen ist. Oder hast du Angst?“ Er blickte mich herausfordernd an.
Auf einmal konnte ich fast verstehen, was alle Frauen an ihm fanden.
„Bestimmt nicht.“ Ich erwiderte seinen Blick hoheitsvoll, stieß das Tor auf und trat
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