Zeit für Eisblumen
der Mutter ständig am Rockzipfel hängen, denen man alle Hindernisse aus dem Weg räumt, richtig darauf vorbereitet werden? Du tust, was getan werden muss, und du bist für Paul da, wenn er dich braucht. Ich finde, das ist eine ganze Menge.“
Ich sah ihn zweifelnd an. „Hat Milla dir erzählt, dass ich nach der Geburt eine Depression hatte?“
Ian nickte. „Aber sie sagte auch, dass du sehr viel Blut verloren hast.“
„Viele Frauen verlieren bei der Geburt Blut. Trotzdem werden sie nicht depressiv. Ich frage mich die ganze Zeit, warum gerade mir all das passieren musste. Und ich glaube …“, ich machte eine Pause und sah Ian an, „dass das Schicksal mich damit bestrafen wollte.“
„Für was?“
„Für einen Seitensprung.“
Ian verzog die Lippen. „Für einen Seitensprung? Ist das dein Ernst? Aber dann müsste die halbe Menschheit unter Depressionen leiden. Wenn das reicht.“
Ich war ein wenig beleidigt. Ich gestand ihm etwas, worüber ich außer mit Nina noch nie mit jemandem geredet hatte, und er machte sich über mich lustig. „Depressionen sind in vielen Ländern auch die Volkskrankheit Nummer eins.“
Ian wurde ernst. „Ich lache nicht über dich. Ich lache darüber, dass fast jeder, der in einer Depression steckt, annimmt, in irgendeiner Form Schuld auf sich geladen zu haben. Und jeder glaubt, er sei der Einzige, dem es so geht.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte ich misstrauisch.
„Ich habe dir doch erzählt, dass ich in Amsterdam eine Arztpraxis hatte. Ich war Psychologe, bevor ich nach Irland ausgewandert bin.“
Stimmt! Das hatte er erwähnt, aber ich hatte nicht nachgehakt. Vielleicht sollte ich endlich anfangen, mich ein wenig mehr für meine Mitmenschen zu interessieren.
„Aber ich habe meinen Freund nicht einfach nur so betrogen. Ich wollte mich an ihm rächen.“
„Rächen? Wofür?“
„Vor knapp zwei Jahren hätte Sam die Apothekenkette seines Vaters übernehmen sollen. Aber er meinte, er wolle lieber weniger Geld und mehr Freizeit. Deswegen hat er auf Lehramt umgesattelt. Noch einmal ganz von vorn angefangen. Natürlich war sein Vater wütend auf ihn. Und ich auch. Wir hatten es so gut: tolle Urlaube, teure Restaurants, schicke Kleider. Aber er schmeißt das alles einfach weg. Weil ihm sein Weg zu steinig war.“
„Aber er ist es, der diesen Weg gehen musste. Und ob es einfacher ist, noch einmal von vorn anzufangen, vor allem, wenn man mit negativen Konsequenzen rechnen muss, bezweifle ich. Im Gegenteil: Dein Sam scheint ein mutiger Kerl zu sein.“
„Das weiß ich jetzt auch“, sagte ich resigniert. „Aber damals wollte ich es nicht sehen. Ich hatte Angst davor, unser bequemes Luxusleben aufzugeben. Dann habe ich David getroffen. Ich wollte Sam eins auswischen. Aber damit habe ich diese unglückselige Kettenreaktion in Gang gerufen.“
„Welche Kettenreaktion?“
„Es ist möglich, dass David der Vater von Paul ist.“
Ian schwieg.
„Weißt du“, fuhr ich fort, „ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass all das nur Zufall war. Bestimmt wollte mir das Schicksal, oder vielleicht Gott, etwas damit zeigen. Aber wenn es keine Strafe war, was war es dann? Welchen Sinn hatte das alles?“
Ian zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat es einen, vielleicht nicht. Aber wenn es einen hat, wirst du ihn früher oder später herausfinden.“
„Siehst du denn einen Sinn im Tod deiner Frau?“ Ich betrachtete intensiv meine Fußspitzen.
Nein“, antwortete Ian schlicht. „Aber ich brauche auch keinen mehr.“
Irgendwie fand ich diesen Gedanken merkwürdig tröstlich.
„Die ganze Situation war nicht einfach für dich, nicht wahr?“, meinte Ian.
Ich merkte, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Herr im Himmel! Hier in Irland hatte ich aber nah am Wasser gebaut. Unwirsch wischte ich sie weg.
„Nein, war sie nicht“, sagte ich zornig. „Ich war mit der ganzen Schwangerschaft schon überfordert. Und dann wusste ich nicht genau, wer der Vater des Kleinen ist. Ich habe ständig darüber nachgedacht, ob ich Sam meinen Seitensprung gestehen sollte oder nicht. Aber irgendwann war der Wurm da und es war zu spät. Ich dachte, dass ich mit meinen Schuldgefühlen klarkäme. Ich meine, es ist ja auch recht unwahrscheinlich, dass David der Vater von Paul ist. Mit Sam habe ich viel häufiger geschlafen. Wahrscheinlich sollte ich es ihm sagen. Denn schlimmer als jetzt hätte es für mich nicht kommen können. Aber wäre das überhaupt fair? Die ganze Zeit
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