Zeit für mich und Zeit für dich
wie er während der Abendnachrichten am Tisch einschlief. Sein Kopf sank langsam immer tiefer, bis ihn schließlich ein letzter heftiger Ruck wieder aufweckte, als hätte er einen Schlag in den Nacken bekommen. Das brachte mich zum Lachen. Er blickte dann verstört um sich, versuchte zu verstehen, wo er war, und herauszufinden, ob meine Mutter und ich es mitbekommen hatten. Wenn er merkte, dass ich ihn beobachtet hatte, lächelte er und zwinkerte mir zu. Das machte mich glücklich. Jedes Mal, wenn er mir zuzwinkerte, am besten so, dass meine Mutter es nicht sah, fühlte ich mich ihm nah, fühlte ich mich wie sein Komplize. Es war dann eine Sache zwischen uns Männern. Ich versuchte zurückzuzwinkern, kriegte es aber nicht hin und kniff einfach beide Augen zu. Oder ich legte meinen Finger auf eines. Jedes Mal hoffte ich, dies sei der Beginn einer neuen, innigeren Freundschaft zwischen uns. Dass er von jetzt an öfter mit mir spielen und mich überallhin mitnehmen würde. Ich war so glücklich, dass ich auf [19] meinem Stuhl mit den Beinen zu strampeln begann, als schwämme ich in diesem Gefühl. Aber die Verbrüderung ging nie über diesen kurzen Augenblick hinaus. Nach dem Essen stand er auf, um noch ein paar Dinge zu erledigen oder wieder an die Arbeit zu gehen. Ich war noch klein und verstand das nicht, dachte nur, dass er mich nicht wollte, nicht den Wunsch hatte, bei mir zu bleiben.
All meine Versuche, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, seine Liebe zu gewinnen, schlugen fehl. Bei meiner Mutter war ich da sehr viel erfolgreicher. Sie lachte, wenn ich etwas Lustiges sagte, sie lobte mich, umarmte mich, und ich fühlte mich unendlich stark: Ich hatte es in der Hand, ihre Stimmung zu ändern, ich konnte sie froh machen. Bei meinem Vater funktionierte das nicht. Ich konnte nichts tun, damit er mich liebhatte.
Trotzdem erinnere ich mich auch an schöne Dinge, die er für mich getan hat oder die wir zusammen erlebt haben. Zum Beispiel als meine Mutter für eine kleinere Operation ins Krankenhaus musste und in der Zeit meine Oma zu uns kam, um uns zu helfen. Oma schlief in meinem Zimmer und ich bei meinem Vater im Ehebett. Jeden Morgen, bevor er hinunter in die Bar ging, kochte er mir zum Frühstück Vanillepudding. Ich erinnere mich noch genau daran, wie der Tisch gedeckt war.
Oder an jenen Samstagabend, als er, Mama und ich eine Pizza essen gingen. Es war das erste Mal, dass wir zum Abendessen ausgingen. »Und was machen wir Montag, wenn der Mann vom Wasserwerk kommt und sein Geld will?«, fragte meine Mutter.
[20] »Keine Ahnung, das überlegen wir uns morgen«, antwortete er.
Auf dem Weg zur Pizzeria hob mein Vater mich auf seine Schultern. Ich erinnere mich ganz genau an alles. Zuerst hielt er mich an den Händen fest, dann packte er mich an den Fußgelenken, und ich legte die Hände auf seinen Kopf und krallte mich in seine Haare. Ich kann immer noch seinen Hals zwischen meinen Beinen spüren. Nie war ich größer. Nie schlug mein Herz höher. Ich weiß nicht, was an diesem Abend mit ihm los war, aber plötzlich war er ein richtiger Vater. Er schnitt mir sogar die Pizza klein. Er war nett, lachte über meine Bemerkungen. Auch meine Mutter lachte. An jenem Abend waren wir eine glückliche Familie. Er noch mehr als wir. Vielleicht war der Mann, den ich an diesem Abend sah, mein wirklicher Vater, der Vater, der er ohne all die Probleme gewesen wäre.
Als wir mit dem Auto zurück nach Hause fuhren und ich hinter ihnen zwischen den Sitzen stand, wünschte ich mir, dass dieser Abend niemals zu Ende ginge. Darum sagte ich: »Darf ich noch aufbleiben, wenn wir wieder zu Hause sind?« Aber noch während der Fahrt schlief ich ein.
Am nächsten Morgen war alles wie immer. Es war Sonntag. Meine Mutter werkelte in der Küche, mein Vater räumte in der Bar auf.
»Gehen wir heute Abend wieder Pizza essen?«
»Nein, heute bleiben wir zu Hause.«
[21] Sie
Sie hat mich vor zwei Jahren verlassen, oder gestern Abend, oder gar nicht, ich weiß es nicht. Wenn du nicht mehr mit der Person zusammen bist, mit der du gern zusammen wärst, dann denkst du in den unmöglichsten Momenten an sie und wirst von Erinnerungen und Bildern überschwemmt. Vor allem, wenn die Gegenwart achtlos an dir vorübergeht, ist ein Plätzchen in den Ecken und Winkeln vergangener Tage vorzuziehen. »I’ll trade all my tomorrows for a single yesterday«, wie Janis Joplin singt: All mein Morgen würde ich gegen ein einziges Gestern
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