Zeit für mich und Zeit für dich
am liebsten würde ich auf dem Sofa liegen bleiben.
Bevor ich die Wohnung verlasse, beobachte ich das Licht, das zaghaft unter dem hochgezogenen Rollladen einsickert und sich sanft aufs Sofa oder auf die Wand legt, und denke, dass all das jetzt dableibt und ein Leben lebt, das nicht für mich bestimmt ist. Ich schaue mich um, beobachte die Gegenstände, die Stühle, den Tisch, das Bett, und denke, bei meiner Rückkehr wird alles so sein, wie ich es zurückgelassen habe, ohne Veränderung.
[155] Wenn es in eine Stadt geht, gehe ich als Erstes ins Museum. Als wir das letzte Mal in London waren, bin ich, gleich nachdem ich den Koffer im Hotelzimmer abgestellt hatte, in die Tate Modern gegangen. Ich gehe zwar gern in Ausstellungen – aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, bereiten sie mir immer ein wenig Unbehagen und machen mich verlegen. Nach außen wirke ich entspannt, aber in mir drin fühle ich mich unbehaglich. Weil ich nämlich ein echter Kunstfan bin und mich zwar ein wenig auskenne, die Kunst aber nie so richtig bis ins Letzte verstehe. Ausstellungen besuche ich gern allein, ich bleibe gern länger vor den Kunstwerken stehen, lasse mir Zeit und überspringe auch mal welche. Ich mag die intime Beziehung zwischen mir und dem Werk. Und dabei bin ich lieber für mich, folge lieber meinem eigenen Timing.
Ich gehe auch gern in den Museumsshop und kaufe mir immer irgendwas: eine Tasse, einen Kalender, einen Bleistift oder Magnete für den Kühlschrank.
Jenes Wochenende in Paris mit Nicola war nicht leicht für mich. Durch die Straßen einer romantischen Stadt zu laufen und zu wissen, dass sie zur gleichen Zeit zu Hause ihr Zeug zusammenpackte, war niederschmetternd. Ob ich aß, spazieren ging oder in einer Bar saß, ich nahm die Schönheit der Orte gar nicht wahr, meine Gedanken wanderten dauernd zu ihr, ich stellte mir vor, wie sie alles in Kisten packte und wie sie traurig ihren Blick durch die Wohnung schweifen ließ, um zu sehen, ob sie auch nichts vergessen hatte. Ich wäre am liebsten aufgesprungen und zu Fuß nach Hause gelaufen, um sie [156] auf Knien anzuflehen, sie möge bleiben. Doch es war sinnlos, ich konnte von ihr nichts fordern, wenn ich meine Versprechen nicht würde einhalten können. So weit waren wir schon mal gewesen.
Nicola versuchte mich abzulenken, obwohl er natürlich merkte, dass ich mit dem Kopf woanders war, zerstreut, gefangen und weit weg. Und er redete und redete und redete…
»Weißt du eigentlich, woher Croissants ihre Form und ihren Namen haben?«, fragte er, als wir in der Bar am Tisch saßen.
Ich antwortete nicht mal.
»Die Form ist einer Mondsichel nachempfunden, genauer gesagt dem zunehmenden Mond auf der türkischen Flagge. Bei der Belagerung Wiens haben die Türken nämlich versucht, nachts Tunnel zu graben, um die Fundamente der Festungsmauern zu unterminieren und zum Einsturz zu bringen, doch die Bäcker, die schon bei der Arbeit waren, hörten die Geräusche und alarmierten Soldaten, die die Türken vertrieben. Zum Gedenken an diesen Sieg wurden die Bäcker beauftragt, ein Gebäck zu kreieren, und sie erfanden das Croissant, was so viel wie ›zunehmend‹ bedeutet. Wie der Mond auf der türkischen Flagge… Hast du das gewusst? Interessant, was?«
»Nein.«
Als ich Sonntagabend nach Hause kam, verharrte ich ein paar Minuten vor der Wohnungstür, als zögerte ich, in mein neues Leben einzutreten. Ich hoffte, alles wäre noch wie vorher, sie stände am Herd und sagte: »Lass uns [157] ein andermal drüber reden, jetzt setz dich, ich hab uns was zum Abendessen gekocht.«
Doch die Wohnung war leer. Wie meine Zukunft.
[158] Mit offenem Visier
Die Beziehung zu meinem Vater beschränkte sich längst auf wenige Worte, wir vermieden geflissentlich bestimmte Themen. Zuneigung und Einverständnis waren inexistent. Ich lebte schon länger nicht mehr zu Hause – wahrscheinlich hätten wir das Geschehene durchaus hinter uns lassen können, doch inzwischen war uns unser Verhalten fast zur Gewohnheit geworden, auch weil wir dadurch unsere Unsicherheiten gut verbergen konnten.
Ich war von zu Hause fortgegangen, weil ich mir ein Anderswo wünschte, eine andere Möglichkeit. Mein Erfolg hatte mir recht gegeben, und das machte die Dinge kompliziert.
Meine Mutter fragte nach meiner Arbeit, sie wollte Bescheid wissen, war stolz auf mich. Er hingegen sagte nie etwas, und beim kleinsten Anlass begannen wir uns sinnlos zu streiten.
Eines Abends hatte meine Mutter
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