Zeit für mich und Zeit für dich
einschaltete.
Dieses Schweigen gehörte zum Schmerzhaftesten, was mir je zugestoßen ist.
Ich stand ebenfalls auf, nahm die Jacke und ging. Die Tür schloss sich mit einem trockenen Knall. Auf der Rückfahrt nach Mailand heulte ich.
An diesem Abend wälzte ich mich noch lang in meinem Bett hin und her, doch irgendwann konnte ich [162] einfach nicht mehr und schlief ein. Am nächsten Morgen überhörte ich den Wecker. Nachmittags rief meine Mutter an und fragte, wie es mir gehe.
»Gut, und entschuldige wegen gestern.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Du weißt ja, wie er ist. Er zeigt es nicht, aber er liebt dich, das musst du mir glauben… Du kannst es nicht wissen, doch wenn du nicht da bist, spricht er immer gut über dich. Wenn jemand nach dir fragt, ist er richtig stolz und lobt dich in den höchsten Tönen, und was für ein Glück wir hätten mit einem Sohn wie dir. Heute beim Mittagessen habe ich mit ihm geredet… Du wirst sehen, mit der Zeit werden sich die Dinge ändern. Hab Geduld, ich weiß, du glaubst mir nicht, aber wart’s ab…«
Während sie sprach, flennte ich wie ein kleines Kind, aber ich wollte nicht, dass sie es merkte. Ich bekam gar nichts mehr mit, nur dass sie irgendwann noch mal das Gleiche sagte wie zuvor: »… und was für ein Glück wir hätten mit einem Sohn wie dir.«
»Entschuldige noch mal wegen gestern, Mama, das wollte ich nicht.«
»Aber ich mache dir doch keine Vorwürfe, ich sage dir nur, dass du Geduld haben sollst. Hast du immer gehabt, ich weiß. Sag mir lieber, wann du uns wieder besuchen kommst, dann mache ich dir Wiener Schnitzel, das magst du doch so gern.«
»In Ordnung, ich ruf die Tage an und sag dir Bescheid.«
»Schönen Gruß von Papa.«
[163] Natürlich ließ er mich nicht grüßen, aber ich tat so, als würde ich es glauben.
»Grüß ihn zurück, ja? Ciao.«
[164] Pflanzenpflege
Ein paar Tage nach dem Streit mit meinem Vater bekam ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Brief von meiner Mutter. Ein paar Stellen daraus weiß ich immer noch auswendig:
Ich frage mich, Lorenzo, ob ich Dir eine so gute Mutter gewesen bin, wie meine Mutter es immer für mich gewesen ist. Ich würde Dich gern unbeschwerter sehen, würde mir wünschen, Du hättest nicht wie dein Vater immer das Gefühl, dass Dir etwas fehlt. Du wirst sehen, nach und nach kommt alles wieder ins Lot, auch mit Deinem Vater. Ich rede oft mit ihm über Dich, und daher weiß ich, wie wichtig Du ihm bist.
Ich umarme Dich.
Mama
Meine Mutter ist eine schmächtige, zarte Person. Aber beklagt hat sie sich nie, auch in den schlimmsten Zeiten nicht. Sie ist nie unhöflich oder patzig oder respektlos. Nie habe ich eine abwertende Bemerkung von ihr gehört, nie ein böses Wort. So unglaubwürdig das klingt.
Manchmal, wenn ich abends allein zu Hause bin, denke ich an sie und daran, was sie alles für mich getan hat, [165] allein durch ihr Beispiel, ihre stille Anwesenheit. Sie war immer da, wenn ich sie brauchte, ohne je aufdringlich zu sein.
Oder ich stelle mir vor, wie es sein wird, wenn meine Eltern nicht mehr da sind, und dann geht es mir mies. Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie mit der Küchenschürze durch die Wohnung geht, die Wäsche aufhängt, faltet und bügelt, Pasta in dem Topf kocht, an dem ein Henkel fehlt, allein in der Küche sitzt und einen Kaffee trinkt. Sie weiß genau, wie viel sie mir beim Essen auf den Teller tun muss. Sie kennt die Maße meines Lebens. Ich denke an ihre Worte, an ihre unendliche, grenzenlose, stille Liebe, gut und wohlriechend wie die rosafarbenen Seifenstücke, die sie noch heute in die Schubladen legt, zwischen Hemden, BH s und Schals. An ihre Handschrift auf den Schachteln im Kleiderschrank: Sandalen Mama, Winterschuhe Lorenzo, braune Stiefel.
Ich denke daran, mit wie viel Liebe sie stets versucht hat, alles am Laufen zu halten, zwischen uns zu vermitteln und uns zu verstehen zu geben, dass sie für uns da ist; daran, wie schwer es für sie gewesen sein muss, mit den ewigen Streitereien zwischen mir und meinem Vater zurechtzukommen. An die Engelsgeduld, mit der sie darauf wartete, dass wieder Frieden einkehrte: so als wüsste sie durch das bloße Frau-und-Mutter-Sein, wie die Welt sich dreht.
Ich habe es nie geschafft, ihr einen Brief zu schreiben, auch nicht, als ich ihren bekam. Ein Strudel in meinem Magen verschlingt die Tinte.
Dennoch löste dieser Brief in mir eine Reihe von neuen
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