Zeit für mich und Zeit für dich
Aufmerksamkeit. Das nährt zwar unser Ego, erzeugt aber zugleich Schuldgefühle. Wir erschaffen ein Nichts, wir schüren Angst, dann füllen wir diese Leere mit dem Produkt, und die Leute sind wieder beruhigt. Wir sind wie die Kirche: Wir beflecken mit der Erbsünde und verkaufen den Fleckenreiniger gleich mit.
Dieser Vorgang muss immer und immer wiederholt werden, denn steter Tropfen höhlt ja bekanntlich den Stein. Tatsächlich ist der Konsument schon derart vereinnahmt, dass er sich inzwischen selbst konditioniert, der Wächter seiner eigenen Gefängniszelle geworden ist.
Die große Errungenschaft der modernen Gesellschaft ist die Vernichtung der Kultur der Sparsamkeit. Ich gebe aus, was ich verdiene, ja ich kann sogar noch mehr [148] ausgeben, kann das Geld ausgeben, das ich in der Zukunft verdienen werde, das ich noch gar nicht besitze, dank all der erleichterten Zahlungsmöglichkeiten: Raten, Leasing, Kreditkarten.
Wir Werbeleute stellen unsere Kreativität in den Dienst des Kampfes gegen den Produktionsrückgang, den Feind Nummer eins, den es zu besiegen gilt. Ständig müssen neue Märkte ins Auge gefasst werden, die es anzugreifen und zu erobern gilt, als wären es Territorien. Es gibt viele Methoden, zum Kauf zu animieren. Sehr effizient ist es zum Beispiel, ein Produkt durch immer neue Versionen zu ersetzen, indem man auch die neueste Version rasch ihres Glanzes beraubt. Wir sind es, die dir sagen, wann ein Gegenstand veraltet ist und wann du eine neue Version brauchst, um noch auf der Höhe der Zeit zu sein. Denn du bist das Produkt, und ein neues Produkt macht dich jünger. Wir haben unersättliche Konsumenten geschaffen.
Selbst die entschlossensten Diktaturen haben es nicht hingekriegt, die Menschen so gleichzuschalten wie die Konsumgesellschaft, obwohl dies gar nicht das erklärte Ziel war. Huxley hatte recht mit der Vorhersage, dass sich bereits in der nächsten oder übernächsten Generation eine Methode durchsetzen werde, welche die Menschen dazu bringe, ihre Knechtschaft zu lieben und Diktaturen ohne Tränen zu erschaffen. Eine Art schmerzfreies Konzentrationslager für ganze Gesellschaften, in welchen die Menschen zwar ihrer Freiheit beraubt, aber ziemlich glücklich seien…
Mit Nicola unterhalte ich mich oft über solche Dinge. [149] Manchmal überlegen wir uns, alles hinzuschmeißen und irgendwo einen Ferienbauernhof aufzumachen, aber letzten Endes glaube ich, dass wir mit unserer Arbeit doch zufrieden sind. Die Allgegenwart von Fernsehen und Werbung gibt uns das Gefühl, mitbestimmen zu können. Und außerdem arbeiten wir für Marken, die eine internationale Sprache geprägt haben. »Coca-Cola« ist das zweitmeist benutzte Wort der Welt, nach »okay«. Solche Namen kennt man überall auf dem Globus. Sie sind wie Hausgötter, und wir sind die Priester dieser modernen Religion.
Schon am ersten Tag im Büro hat Nicola mir erklärt, dass diese Arbeit für ihn nur dann einen Sinn hat, wenn er sie wie ein Spiel betreibt, dass er kreativ sein muss, um nicht verrückt zu werden.
»Ich habe schon so einen Haufen Probleme, ich will nicht, dass die Arbeit auch noch zum Problem wird.«
»Was hast du schon für Probleme?«
»Dieselben wie du: das Leben. Denk dran, das Leben ist eine tödliche Krankheit, deshalb muss man es genießen. Heute geht’s dir gut? Dann nutz es aus!«
Ein anderer Satz von ihm lautete: »Traurigkeit färbt ab.«
Manchmal nervt mich Nicola auch. Neulich hab ich ihn gebeten, ein, zwei Zeilen zu einer Idee zu Papier zu bringen, und als er wiederkam, zeigte er mir das:
[150] »Ich war so inspiriert, dass es gleich drei Zeilen geworden sind.«
Ihm wiederum geht es auf den Wecker, wenn ich sage: »Nein, das stimmt so nicht, lass es mich dir erklären.«
Dann erwidert er: »Alles klar, Wiki.« »Wiki« steht für Wikipedia. So nennt er mich immer, wenn ich mal wieder klugscheiße. Manchmal sagt er auch »Herr Obergenau« zu mir.
Einmal war ich zum Abendessen bei ihm eingeladen (das kommt nicht oft vor, weil er eigentlich nie irgendwas im Haus hat, das man kochen könnte, und auch diesmal gab es nur Pasta mit Parmesan). Als wir nach dem Essen auf dem Sofa saßen und einen Joint rauchten, sagte er: »Du hörst dir jeden Scheiß von anderen an, aber über dich selbst redest du nicht viel. Du gibst kaum was von dir preis. Du traust niemandem.«
»Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Das wollte ich dir schon länger mal sagen. Scheiße, Mann, du traust
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