Zeit, gehört zu werden (German Edition)
der Nacht versammelten, den ich in den letzten zwei Jahren einmal wöchentlich hatte machen dürfen.
Wenn der Prozess schlecht ausgeht, dachte ich, schneide ich mir die Haare ab .
Es war eine oberflächliche, dumme, melodramatische Idee. Aber weiter konnte ich mich nicht auf den Gedanken an ein derart gewaltiges und furchteinflößendes Ende einlassen, dass ich niemals damit klarkommen würde.
Eines Tages nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte Chris, der in der Zeit vor den Schlussplädoyers und der Urteilsverkündung in Perugia war: »Was würde eine Verurteilung bedeuten?«
Aus lauter Angst, diesen unerforschten, dunklen Ort zur Kenntnis zu nehmen, konnte ich nur flüstern.
»Wir würden in Berufung gehen, und wenn du dann auch noch nicht freigesprochen wirst, würde dich der Oberste Gerichtshof freisprechen. Im Höchstfall würde das fünf Jahre dauern«, erklärte Chris.
»Fünf Jahre?!«
Das war erheblich mehr, als ich wissen wollte.
Chris versuchte eilends, mich zu beruhigen. »Wenn es dazu käme, Amanda, würden wir einen Weg finden, dich zu retten! Aber mach dir keine Sorgen! Das wird NICHT passieren! Und wenn es aus einem absolut grotesken Grund doch schiefgeht, ziehe ich nach Italien.«
Chris erledigte seinen IT-Job in der kalten, spartanisch eingerichteten Wohnung am Stadtrand von Perugia, die meine Eltern gemietet hatten. Aber sein Versprechen klang so drastisch, dass es die Absurdität einer Verurteilung unterstrich.
Es gab nur eine Person, die mir zwar Mut zusprach, mich aber zugleich auch vor »meiner Mickey-Maus-Sichtweise« warnte, wie sie es nannte. Laura war Mitte fünfzig und meine neue Verbündete im Gefängnis. Sie war im Sommer nach Capanne verlegt worden. Als die einzigen Amerikanerinnen dort verstanden wir uns auf Anhieb, weil wir uns beide so deplaziert vorkamen. In der Zeit vor der Urteilsverkündung sagte sie oft: »Amanda, dein Optimismus würde einem Disney-Film zur Ehre gereichen, aber die wirkliche Welt ist nicht so. Es gibt nicht immer ein Happy End, bloß weil es eins geben sollte.«
Und dann, einfach so, begann der letzte Akt.
So lange Zeit hindurch waren wir ein- oder zweimal pro Woche zum Gericht gefahren, um unseren Fall zu verhandeln. Wir schienen eine Ewigkeit in einem Schwebezustand gelebt zu haben. Doch als wir uns dem Ende näherten, war es, als hätte jemand die Schnellvorlauftaste gedrückt. Die Verhandlungen fanden nun fast täglich statt, eine purzelte in die nächste hinein, und alle führten zur Urteilsverkündung, die für den ersten Freitag im Dezember angesetzt war. Mein Vater kaufte mir ein Flugticket nach Seattle, sobald er herausfand, wann das Urteil fallen sollte. »Wir holen dich hier raus und bringen dich heim«, versprach er.
Staatsanwalt Giuliano Mignini hielt als Erster sein Schlussplädoyer. Zwischen einer ruhigen, fast leisen Aufzählung der »Fakten« und dem leidenschaftlichen Tonfall eines Predigers bei einer Zeltmission wechselnd, fasste er Raffaeles und meine Rolle bei der Greueltat zusammen, die Meredith das Leben gekostet hatte. Er begann mit dem Gedanken, dass Filomenas Fenster kein glaubwürdiger Zugang zur Villa sei, weil zu hoch oben, und endete damit, dass wir Merediths gestohlenes englisches und italienisches Handy über die Gartenmauer geworfen hätten.
Raffaele und ich hätten »diesen armen Rudy«, wie Mignini ihn nannte, beschuldigt, Meredith »als Einziger« angegriffen zu haben. »Er trägt seine eigene schwere Verantwortung, aber die Verantwortung trägt nicht nur er«, intonierte Mignini.
Ich konnte nicht glauben, was der Staatsanwalt da sagte. Er, der sich als Fackelträger der Wahrheit für Merediths Familie aufgespielt hat, nennt den Mörder »der arme Rudy«? Die Beweise für Rudys Verbrechen waren überall, und seine Vorstrafe wegen Diebstahls passte zu dem Einbruch. Der arme Rudy? Guede hatte gestohlen! Er hatte Meredith umgebracht! Er hatte einen Handabdruck in Merediths Blut hinterlassen! Er war geflohen! Er hatte gelogen! Der arme Rudy?
Mignini fuhr fort. »In Amandas Augen war der Augenblick gekommen, Rache an diesem affektierten Mädchen zu nehmen, und so begann die Belagerung von Mez« – Merediths Spitzname – »mit einem sich immer weiter steigernden Crescendo von Drohungen und Gewalt.«
Rache wofür?!
»Mittlerweile war es ein unaufhaltsames Spiel voller Sex und Gewalt. Zunächst hatten die Angreifer sie bedroht und von ihr verlangt, dass sie sich dem Hardcore-Sexspiel fügte. Man kann sich
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