Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Geschwätz. Intelligente Schöffen würden mich auf dieser Grundlage niemals verurteilen.
Manchmal jedoch erlahmte meine Zuversicht, und ich verspürte ein mulmiges Gefühl im Magen. In der Highschool hatte ich gelernt, dass 95 Prozent aller Kriminalfälle in den Vereinigten Staaten mit einer Verurteilung enden, und diese Statistik ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte zu viel Angst, um zu fragen, ob es in Italien genauso war.
Die Anklage hatte meine Glaubwürdigkeit auf jede nur denkbare Weise untergraben. Um eine Assoziation zur Mafia herzustellen, bezeichnete Mignini meine Familie als einen »Clan«, der fälschlich meine Unschuld beteuere. Er und seine Kollegin Manuela Comodi behaupteten, die Argumentation meiner Anwälte, es gebe begründete Zweifel, sei eine Technik, um Verwirrung zu stiften und den Kummer der Kerchers zu verlängern.
Eine öffentliche Meinungsumfrage im Fernsehen ergab, dass mich mehr als 60 Prozent der Italiener für schuldig hielten. Die Leute, die nur Fernsehberichte anschauten, waren höchstwahrscheinlich auf Seiten der Anklage. Diese Erkenntnis löste eine tiefsitzende Furcht in mir aus, dass ich trotz meiner Unschuld verurteilt werde würde.
Die anderen Insassinnen tratschten die ganze Zeit über meinen Fall, hinter meinem Rücken und auch mir gegenüber. »Na komm schon, Amanda. MIR kannst du’s doch sagen.«
Im Verlauf der vielen Monate des Prozesses wurde ich immer tauber. Ich bekam Angst vor Gefühlen, damit meine Emotionen mich nicht überwältigten. Aber je näher das Urteil rückte, desto höher wurden die Ausschläge auf meiner Nervositätsskala. Mir fielen die Haare aus. Jedes Mal, wenn ich sie wusch, hatte ich einen dicken Klumpen in den Händen. Ich brach plötzlich und völlig grundlos in Tränen aus. Panikattacken ließen mich nach Luft ringen. Mein Energiepegel war so niedrig, dass mir schon vom Herumgehen schwindlig wurde und ich Muskelkater bekam. Im verzweifelten Versuch, die Welt um mich herum auszuschließen, ging ich jeden Abend um sieben oder acht Uhr mit Ohrstöpseln ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf.
Die Wärterinnen schickten mich oft zu Don Saulo. Er war die einzige Person, die mich beruhigte. Ich saß stumm auf seinem Sofa und hielt seine Hand. Eine seiner wenigen Bemerkungen lautete: »Ich hoffe, Sie dürfen nach Hause. Soweit ich weiß, sind Sie unschuldig, und Sie gehören nicht ins Gefängnis.«
Das bedeutete mir ungeheuer viel.
An einem anderen Tag schlug Don Saulo vor, ich solle es mit Beten versuchen. »Sie können einfach sagen: ›Gott, wenn es dich gibt, ich brauche jetzt wirklich deine Hilfe.‹«
Also betete ich. Ich kam mir dabei lächerlich vor, weil ich nicht an Gott glaube. Aber ich war auch erleichtert. Ich sichere mich ab , dachte ich. Für alle Fälle . Meine Gespräche mit Gott waren immer dieselben: »Sieh mal, ich weiß, dass Unschuldige leiden – Meredith hat den Tod nicht verdient. Aber ich glaube nicht, dass ich mit dem hier fertig werde. Bitte nimm es in deinen Plan auf, dass ich das nicht durchmachen muss, weil ich nicht weiß, wie ich es schaffen soll.«
Tief im Innern glaubte ich nicht, dass ein negatives Ergebnis möglich war. Meine Zuversicht trug stets den Sieg über den schlimmsten denkbaren Fall davon. Mit Letzterem KONNTE sich mein Verstand einfach nicht befassen. Stattdessen träumte ich mit offenen Augen von zu Hause.
In meinem neuen Leben will ich gesund, produktiv und musikalisch sein, dachte ich. Aus Zeitschriften schnitt ich Einrichtungsideen aus, die mir gefielen, und schickte sie Madison, meiner Freundin vom College, für unsere neue Wohnung in Seattle. Ich machte mir Gedanken über die Jobsuche – ich wollte nicht auf meine Eltern angewiesen sein. Ich hatte sie schon viel zu viel Zeit und Geld gekostet und zu viel emotionalen Aufruhr verursacht.
Wenn sie mich in Capanne besuchten, fragten meine Angehörigen: »Was willst du als Erstes machen, wenn du nach Hause kommst? Wie wär’s, wenn wir gemeinsam nach Arizona abhauen« – Chris stammt von dort – »und klettern würden? Wir fahren irgendwohin, wo dich niemand findet.«
Meine Wünsche waren schlichter. Ich stellte mir vor, im Eingang zum Haus meiner Mutter in West Seattle von allen umringt zu sein, die mir etwas bedeuteten – meiner Familie, Freundinnen und Freunden wie Madison, DJ, James, Andrew und Brett, den Mädchen von meiner Fußballmannschaft, Lehrern. All den Leuten, die sich dort zu dem zehnminütigen Anruf mitten in
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