Zeit, gehört zu werden (German Edition)
den sechs Wochen, seit man dieses Stück Stoff und Metall zum ersten Mal fotografiert hatte, viele Dutzend Leute im Haus herumgelaufen sind, die daraufgetreten sind und es bewegt haben. Alles, was sich in dem Zimmer befand, war bewegt worden, und viele Gegenstände waren auf Haufen geworfen worden. Das kleine Stück Stoff war eindeutig auf dem Boden herumgeschoben worden, und wer weiß, wo noch.
Die Anklage gab sich alle Mühe, die Richter und Schöffen davon zu überzeugen, dass die forensischen Befunde Hand und Fuß hatten.
Eines Morgens erklärte die stellvertretende Staatsanwältin Manuela Comodi dem Gericht, sie habe zum Zeichen ihres Engagements in dem Fall ihren eigenen BH mitgebracht.
Sie hielt einen weißen Bügel-BH aus Baumwolle in der Hand. Von der gesamten Unterwäsche in ihrer Kommode entspreche er am ehesten dem, was Meredith getragen habe, obwohl er, wie sie glucksend erklärte, größer sei als der von Meredith. Comodi hängte den BH an einen Kleiderbügel, um eine Frau zu imitieren, die ihn trug. Dann zeigte sie dem gebannt zuschauenden Gericht mit Hilfe ihres Zeigefingers, wie Raffaele den Finger hätte einhaken können, um den Riemen von Merediths BH zurückzuziehen (und dabei irgendwie DNA am Häkchen, aber nicht auf dem Stoff zu hinterlassen), und wie er sodann den Verschluss mit dem Messer hätte abschneiden können.
Ein paar Schöffen kicherten. Es wirkte alles so komisch. Die Erklärung und die Demonstration waren absurd, aber niemand machte eine skeptische Miene. Kaufen ihr die Leute das wirklich ab?
An einem anderen Tag erklärte die Anklage, meine im Badezimmer gefundene DNA beweise, dass ich in den Mord verwickelt sei. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass ich wochenlang in der Villa gewohnt und dieses Badezimmer täglich benutzt hatte. Selbst Anfänger auf dem Gebiet der Forensik wissen, dass Mitbewohner DNA in Badezimmern hinterlassen, aber die Anklage beharrte darauf, es sei Belastungsmaterial. Sie behauptete, meine DNA könne nur dann zusammen mit den Proben von Merediths Blut eingesammelt worden sein, wenn ich mir ihr Blut von den Händen gewaschen hätte.
Der Anklage zufolge stand fest, dass der Mord gemeinschaftlich begangen worden war. Wieso hatte man dann weder meine noch Raffaeles DNA in Merediths Zimmer gefunden? Ihre Antwort: weil Raffaele und ich den Tatort von unserer DNA gereinigt und nur Guedes DNA zurückgelassen hätten.
Diese Theorie schrieb mir Superkräfte zu. DNA kann man sich nicht herauspicken, sie ist unsichtbar. Selbst wenn ich durch irgendeinen Zauber fähig wäre, DNA zu sehen, könnte ich die DNA einer Person auf visuellem Wege niemals von der einer anderen unterscheiden – niemand kann das.
Die Anklage behauptete, als Repräsentantin des Staates sei sie unparteiisch, und ihre Schlussfolgerungen seien legitim. Unsere Experten hingegen seien nicht vertrauenswürdig, weil sie für unsere Verteidigung bezahlt würden. Und unsere Kritiken, Einwände und Schlussfolgerungen seien lediglich Rauchvorhänge, mit denen wir die Richter und Schöffen verwirren wollten.
Die Kluft zwischen den Fachleuten der Verteidigung und der Anklage wurde quälend groß. Die beiden Seiten hatten ein Patt erreicht. Beide Verteidigungsteams gelangten zu dem Schluss, dass eine unabhängige Überprüfung des Beweismaterials unabdingbar war.
Manche Leute dachten bestimmt, wir zögen bloß eine Show ab, als Carlo den Richter aufforderte, eine solche Überprüfung anzuordnen. Ich wollte nicht noch mehr Zeit im Gerichtssaal verbringen, und insbesondere wollte ich nicht der Grund dafür sein, dass die Kerchers auch nur eine Minute länger dort sitzen mussten. Es bedrückte mich, dass Merediths Angehörige mich für schuldig hielten, aber ich empfand immer ungeheures Mitgefühl für sie. Ganz gleich, wie das Urteil ausfiel, sie würden Perugia ohne ihre Tochter und Schwester verlassen. Ich wusste, ihr Schmerz würde frisch bleiben und einen Schatten der Trauer auf alles Gute werfen. Aber ich wusste auch, dass ich eine unabhängige Überprüfung verlangen musste. Für mich ging es darum, welchen Weg mein Leben nehmen würde. Raffaele und ich waren die Einzigen, deren Zukunft von diesem Prozess abhing.
Die Beratung des Gerichts über den Antrag auf eine unabhängige Überprüfung war enervierend kurz. Ich saß nur eine Viertelstunde lang zwischen meinen Anwälten. »Was glauben Sie, wie die entscheiden werden?«, fragte ich Carlo und Luciano. »Ich sehe eigentlich keinen Grund,
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