Zeit, gehört zu werden (German Edition)
weshalb sie dem Antrag nicht stattgeben sollten. Es ist das einzig Faire.«
»Wir haben ein legitimes Argument vorgebracht«, antwortete Carlo, »aber bei diesem Richter ist das schwer zu sagen.«
»Es bedeutet nicht das Ende für uns, wenn der Antrag abgelehnt wird«, sagte Luciano. »Es heißt nicht, dass wir verloren haben. Coraggio – nur Mut –, Amanda.«
Als das Gericht wieder hereinkam, drückte ich Lucianos Hand unter dem Tisch und wartete, kaum fähig zu atmen.
Ohne jedes Tamtam – so wie er alles machte – trat Richter Massei ans Mikrofon und verkündete: »Eine unabhängige Überprüfung wird nicht erfolgen. Das Gericht hat die Meinungen von genug Fachleuten gehört, um in dem Fall eine Entscheidung treffen zu können.«
Das war bisher bei weitem der schwerste Schlag. Carlo und Luciano wirkten müde und enttäuscht, und keiner von ihnen schaute mir an diesem Nachmittag in die Augen. Ich war jedoch immer noch so geblendet von Hoffnung und dem Glauben an meine Unschuld, dass ich die Neuigkeit tatsächlich positiv interpretierte. Ich konnte angeklagt werden, aber sie würden mich nie und nimmer für etwas verurteilen, was ich nicht getan hatte. Das war unmöglich. Es gab nur ein einziges anständiges Ergebnis. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Schöffen sich ohne Bedenken auf die Seite der Polizei schlagen würden. Sie konnten nicht alles ignorieren, was unsere Verteidigung vorgebracht hatte. »Sie glauben bestimmt, dass wir die Überprüfung nicht brauchen, weil es schon genug begründete Zweifel gibt«, sagte ich zu Luciano.
Er tätschelte mir den Arm, sagte jedoch nichts.
Ich war davon überzeugt, dass ich das richtig sah. Wenn die beiden Seiten vollständig verschiedene Dinge sagen, muss das begründete Zweifel bedeuten. Ich begnüge mich mit begründeten Zweifeln. Das ist gut genug für mich. Ich glaubte wirklich, diese Wendung der Dinge bedeutete, dass ich bald frei sein würde.
Nach so vielen Zeugen und so vielen Worten im Verlauf so vieler Monate gab es schließlich keine Fragen mehr zu stellen oder zu beantworten. Der Richter verkündete, das Gericht vertage sich bis zum 20. November, um der Anklage und der Verteidigung Zeit zur Vorbereitung ihrer Abschlussplädoyers zu geben. Ich konnte nicht glauben, dass ich noch sechs Wochen warten musste! Wenn nichts Unvorhergesehenes geschah, würde das Gericht mit der Endgültigkeit eines Schlussvorhangs am Freitag, dem 4. Dezember, sein Urteil fällen.
28
10. Oktober – 4. Dezember 2009
I n den Wochen vor den Schlussplädoyers schätzte ich unsere Siegeschancen auf 95 Prozent. Carlo gab uns fifty-fifty.
»Richter Massei ermahnt die Verteidigung erheblich öfter als die Anklage«, meinte er. »Und die Richter und Schöffen nicken immer, wenn die Anklage oder der Anwalt der Kerchers redet, schauen aber gelangweilt drein, wenn wir dran sind.«
Ich hielt an meinem Optimismus fest.
Nicht ohne Grund. Journalisten erzählten meinen Eltern, die Argumente der Anklage hätten sie nicht überzeugt. Selbst die vom ersten Tag an einheitlich negativ eingestellten italienischen Medien schienen eine Wende zu vollziehen. In einer Fernsehsendung, die ich an Merediths Todestag sah, wurde das erste aufgezeichnete Gespräch mit Rudy Guede wiederholt, in dem er gesagt hatte, dass ich nicht in der Villa gewesen war. Wenn die Presse die Wahrheit erkennen kann, dann können der Richter und Schöffen es bestimmt auch .
Ich bekam täglich Post von Fremden, die an meine Unschuld glaubten. Und da die forensischen Informationen nun öffentlich zugänglich waren, hatten zwei renommierte DNA-Experten, Dr. Elizabeth Johnson aus Kalifornien und Dr. Greg Hampikian, ein Professor, der das Idaho Innocence Project leitete, in einem Brief, der von sieben weiteren Fachleuten aus allen Teilen der Vereinigten Staaten unterzeichnet worden war, ihrer Besorgnis Ausdruck gegeben. »Es sind keine glaubwürdigen wissenschaftlichen Beweise vorgelegt worden, die das Küchenmesser mit Meredith Kerchers Ermordung in Verbindung bringen«, hieß es darin. Das Problem beim BH-Verschluss sei die Kontamination. Die Wissenschaftler gelangten zu dem Schluss, dass die DNA-Spuren am Messer und am BH-Verschluss »auch dann gefunden worden sein könnten, wenn kein Verbrechen geschehen wäre«.
Die Wissenschaft würde den Sieg davontragen. Ich würde freigesprochen werden, wenn nicht wegen erwiesener Unschuld, dann zumindest wegen begründeter Zweifel. Die Aussagen der Anklage waren bloß
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