Zeit, gehört zu werden (German Edition)
waren sie da; gemeinsam tranken wir einen Espresso und rauchten fast immer einen Joint. Sie waren ein paar Jahre älter als Meredith und ich und für uns große Brüder und schamlose Flirts gleichermaßen. Alle vier stammten aus den Marken, der ländlichen Gegend im Osten Perugias, und studierten an der staatlichen Uni. Bei uns saßen sie herum, bekifften sich und schwafelten über Fernsehserien und Gameshows, Filme, Musik – nichts Besonderes. Von den vieren war Giacomo, groß und stämmig wie ein amerikanischer Football-Spieler mit Ohrpiercings, wirrem Haar und Rehaugen, der Ruhigste und Schüchternste. Er spielte Bass, studierte Spanisch und sprach besser Englisch als seine Mitbewohner. Wenn die Jungs weder zu Hause noch oben in unserer Wohnung oder in der Uni waren, spielten sie oft Basketball an der Piazza Grimana. Eines Tages fragte ich in der Hoffnung, Mitspieler für Tackle Football zu finden, den ich mit meinen Freunden an der University of Washington gespielt hatte, ob ich mit ihnen Körbe werfen könnte. »Klar«, sagten sie. Doch als ich hinkam, merkte ich, dass sie davon ausgegangen waren, ich wollte ihnen nur beim Spiel zusehen. Auch in dieser Hinsicht hatte meine Erziehung in Seattle mich nicht auf die Einschränkungen der großen weiten Welt vorbereitet.
Marihuana war in unserem Haus so normal wie Pasta. Ich selbst habe nie etwas gekauft, aber wir haben alle etwas beigesteuert. Für mich hatte es nur etwas mit Geselligkeit zu tun, allein würde ich es nie rauchen. Ich wusste nicht einmal, wie man einen Joint dreht, und versuchte es einen ganzen Abend lang. Ich hatte es sowohl in Seattle als auch in Perugia oft gesehen, aber es war kniffliger, als ich dachte. Laura beaufsichtigte meine Bemühungen und gab mir Tipps, als ich den Tabak und das Gras dosierte und versuchte, die Mischung in eine rauchbare Tüte zu drehen. Ich habe es an dem ersten Abend nicht geschafft, erntete aber eine Runde Applaus für den Versuch. Filomena oder Laura machten ein Foto von mir, wie ich den Joint zwischen Zeige- und Mittelfinger halte, als wäre er eine Zigarette und ich ein Pin-up-Girl aus den fünfziger Jahren mit Schmollmund.
Ich war bloß albern, doch dieses Zerrbild von mir als Sexbombe würde schon bald um die Welt gehen.
4
Oktober 2007
M eine große Lektion am ersten Tag an der Ausländeruniversität hatte nichts mit Wissenschaft zu tun. Ich war früh zu meinem Grammatikkurs eingetroffen, der um neun Uhr beginnen sollte, und wartete dann allein, schaute immer wieder auf meinen Stundenplan und fragte mich, ob ich am falschen Ort war. Schließlich, als ich schon aufgeben wollte, kamen alle anderen auf einmal – um Viertel nach neun. So erfuhr ich, dass italienische Zeit ein Plus von fünfzehn Minuten bedeutet, ein kultureller Leckerbissen, der mir wahrscheinlich nützlicher sein würde als jedes Verb, das ich zu konjugieren lernte. Noch mehr faszinierte mich meine Sprachlehrerin, die eines Morgens verkündete, sie brauche jetzt eine Zigarette, und die Klasse verließ, während wir fünfzehn Studierende alle auf einen schnellen Espresso oder eine Rauchpause nach draußen gingen. Italiener, wurde mir allmählich klar, heißen jede Gelegenheit willkommen, es sich gutgehen zu lassen.
An fünf Tagen in der Woche ging ich für zwei Stunden zum Unterricht. Außer Grammatik und Zeichensetzung hatte ich noch italienische Kultur belegt. Zum Mittagessen kamen wir alle nach Hause, den Rest des Tages und am Abend machte ich, wozu ich Lust hatte. Meine Lehrer gaben keine Hausaufgaben auf, also saß ich auf der Terrasse oder, als die Tage kälter wurden, an meinem Schreibtisch mit einer Grammatik und einem Wörterbuch und arbeitete mich Wort für Wort durch die italienische Übersetzung von Harry Potter und die Kammer des Schreckens .
Viele Menschen hätten auf der Stelle mit mir getauscht. Ich lebte in Italien – jung und unbeschwert. Doch ich stellte bald fest, dass die ganze Freiheit für mich eine Kehrseite hatte. Die beschäftigungslose Zeit gab mir das Gefühl, pflichtvergessen zu sein, und ich wusste, ich musste sie irgendwie ausfüllen.
Als ich meinen Mitbewohnerinnen Anfang Oktober sagte, dass ich einen Job suchte, stellte Laura mich einem ihrer Freunde vor. Eines Tages nach dem Mittagessen ging sie mit mir zur Piazza Grimana neben der Ausländeruniversität und machte mich mit einem ungepflegten jungen Typen bekannt. »Juve, das hier ist Amanda. Amanda, das ist Juve. Viel Glück!«, sagte sie, drehte sich um
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