Zeit, gehört zu werden (German Edition)
einlegen, und dann kommt etwas Gutes dabei heraus. Sie werden sehen.«
Du irrst dich, dachte ich, ich bin eine verurteilte Mörderin. Nichts wird schon wieder. Aus alldem kommt nichts Gutes heraus.
Die Erkenntnis, was im Gerichtsgebäude geschehen war, saugte mir die Luft aus den Lungen und die Wärme aus dem Körper. Ich zitterte so sehr, dass eine Wärterin mir heiße Milch brachte, als wäre ich ein kleines Baby. Mein einziger Gedanke war: Was zum Teufel interessiert mich heiße Milch? Ich will keine Milch, ich will nach Hause.
Außer Lupa blieben noch zwei andere Wärterinnen bei mir. Die eine war aus dem Frauentrakt, die andere hatte mich auf einigen Fahrten zum Gericht begleitet. Ob sie mich für unschuldig hielten oder nicht, war nicht erkennbar – sie versuchten, nett zu mir zu sein. Aber ich wollte mich von ihnen nicht trösten lassen. »Grazie«, sagte ich immer wieder. Aber mir war übel, ich fühlte mich wie ausgehöhlt und war am Boden zerstört.
Ich weiß noch, als ich sechs wurde. Ich konnte es kaum erwarten, sechzehn zu werden. Ich dachte, es wäre cool, in Italien einundzwanzig zu werden. An sechsundzwanzig hatte ich nie gedacht. Sechsundzwanzig war eine alte Zahl. Ich hatte sie nie als Maß für irgendetwas benutzt. Meine Mutter und Chris waren seit acht Jahren verheiratet. Mein Vater und Cassandra seit zwanzig Jahren. Ich erinnerte mich an eine Flasche Whiskey, auf der Aged Twenty-Five Years stand. Aber an sechsundzwanzig Jahre hatte ich noch nie gedacht. Das war ein Jahr älter als der Whiskey und vier Jahre älter als ich. Wenn ich aus dem Gefängnis kam, würde ich achtundvierzig sein, ein Jahr älter als meine Mutter am Tag der Urteilsverkündung. Ich teilte sechsundzwanzig durch das, was ich kannte. Sechsundzwanzig Jahre waren dreizehnmal so lang, wie ich bisher im Gefängnis gesessen hatte.
Ich konnte nicht aufhören zu rechnen. Jede Permutation lief auf dasselbe hinaus. Ich war des Mordes schuldig gesprochen worden.
»Bitte, bringen Sie mich nicht in meine Zelle«, flehte ich.
Ich wollte es Tanya und Fanta nicht erzählen müssen, wollte nicht vor ihnen in Tränen ausbrechen. Zwei Wärterinnen saßen ungefähr eine Stunde lang bei mir. Dann war ihre Schicht vorbei. Sie mussten heim, genau wie ich. Nur dass ich nicht heimkonnte.
Ich weinte, bis ich zu ersticken glaubte. Am schlimmsten war der Gedanke an meine Angehörigen – wie viel sie geopfert hatten und wie enttäuscht sie waren. Ich wollte bei ihnen sein, um sie in den Armen zu halten und in den Armen gehalten zu werden.
Stattdessen saß ich in tiefster Verzweifung vor dem Schreibtisch der ispettore .
»Können wir irgendwas für Sie tun, Khh-nok-ks?«, fragte sie. Es war dieselbe Inspektorin mit den orangefarbenen Haaren, die mich wegen des Artikels in der Lokalzeitung über Cera zu sich zitiert hatte; damals war ich als infame behandelt worden.
»Können Sie mich vielleicht auf die Liste für eine Zweierzelle statt der Fünferzelle setzen?«, fragte ich schniefend. »Das würde mir viel bedeuten.« Es war das Einzige, was mir jetzt noch blieb: um eine bessere Zelle zu betteln. So weit war es gekommen. Dies war mein neues Leben.
Ich wusste, dass ich zu schwach war, um weitere Feindseligkeiten zu verkraften. Zu meinem Glück war unsere Zelle auf drei Frauen geschrumpft, aber bei zwei leeren Betten konnte jederzeit irgendjemand zu uns verlegt werden, und dann konnte alles Mögliche passieren. Die ständige Fluktuation von Zellengenossinnen machte mein winziges Leben noch kleiner.
Ich war in der Lage, eine solche Bitte zu äußern. Strafen von sechsundzwanzig Jahren waren in Italien ungewöhnlich, besonders in Capanne, wo normalerweise Kleinkriminelle und Drogendealer einsaßen, die Strafen von ein paar Monaten bis zu ein paar Jahren verbüßten. Nach fünfundzwanzig Monaten hatte ich nicht nur eine höhere Rangstufe erklommen – ich war inzwischen länger dort als fast alle anderen –, sondern ich hatte auch den Ruf eines Vorzeigehäftlings.
Zurück in meiner Zelle, schlichen Fanta und Tanya um mich herum. Sie wussten nicht recht, was sie sagen sollten – oder ob sie überhaupt etwas sagen sollten. Schließlich umarmte mich Tanya, und Fanta sagte: »Es tut mir so leid. Wir haben die Berichte im Fernsehen gesehen.«
Etwa eine Stunde später trat eine Wärterin an den cancello . »Packen Sie Ihre Sachen, Khh-nok-ks. Sie werden mit Laura zusammengelegt.«
Das war eine unerhörte Gefälligkeit. Es bedeutete, dass sie die
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