Zeit, gehört zu werden (German Edition)
das Urteil in der ersten und zweiten Instanz von Richtern und Schöffen gefällt. Und statt sich wie in den Vereinigten Staaten auf Verfahrensfehler zu konzentrieren, rollt das italienische Berufungsgericht den Fall neu auf, erhebt neue Beweise und hört neue Zeugen an – sofern man es für nötig erachtet.
Bei unserem Berufungsantrag ersuchten wir das Gericht, unabhängige Gutachter zu bestimmen. Sie sollten die DNA-Spuren auf dem Messer und dem BH-Verschluss erneut untersuchen sowie den Spermafleck analysieren, den man auf einem Kissen unter Merediths Leiche gefunden hatte und den die Staatsanwaltschaft für irrelevant hielt. Die Staatsanwaltschaft beklagte in ihrem Berufungsantrag wiederum ein in ihren Augen zu mildes Urteil und forderte lebenslänglich für Raffaele und mich.
Ich las die Urteilsbegründung von Richter Massei immer und immer wieder, auf der Suche nach Unstimmigkeiten und Fehlern in der Argumentation. Zwar bin ich keine Juristin, aber ich war unmittelbar an dem Fall beteiligt, saß drei Jahre im Gefängnis und stand elf Monate vor Gericht. Das machte mich zu einer Expertin im Aufspüren von Fehlern und falschen Argumentationslinien. In einer von Guedes eidesstattlichen Aussagen behauptete er, ich sei in der Mordnacht nach Hause gekommen, habe an der Tür geklingelt und Meredith habe mich hereingelassen. Offensichtlich wusste er nicht, dass wir normalerweise nicht klingelten, sondern anklopften. Es war nur eine Kleinigkeit, aber meine ehemaligen Mitbewohnerinnen in der Via della Pergola, Laura und Filomena, konnten es bestätigen.
Noch aus den Vereinigten Staaten hatte Madison mir Listen geschickt, die den Fall nach unterschiedlichen Gesichtspunkten aufdröselten, und mich gedrängt, ihn aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Sie ist nicht nur eine wirklich tolle Freundin, sondern kämpft überdies mit einer unglaublichen Sturheit und einer großen Portion Idealismus gegen Unrecht an und setzt sich für Menschen ein, die ihre Hilfe brauchen. Ich hatte das Glück, dass sie sich für mich einsetzte.
Zum Beispiel schrieb sie: »Zeugen: Die Staatsanwaltschaft hat bewusst unzuverlässige Zeugen aufgerufen. Vernehmung: Die Ermittler standen unter enormem Druck, den Mord rasch aufzuklären. Es gibt die Vermutung, dass Polizei und Staatsanwaltschaft Hinweise auf eure Unschuld systematisch ignoriert haben. Das muss deutlich herausgestellt werden. Man hat euch bereits einen Monat vor Bekanntgabe des forensischen Gutachtens für schuldig befunden. Ihr galtet weiterhin als schuldig, nachdem sich eure Aussagen bei der Vernehmung als unrichtig erwiesen hatten, und man hat offensichtlich falsche Zeugen gegen euch verwendet. Die Schöffen müssen erfahren, dass man euch hereingelegt hat. Wie könnt ihr das plausibel machen? Ihr könnt nicht einfach sagen: ›Ich bin ein Sündenbock.‹ Ihr müsst eine Reihe überzeugender Argumente vorlegen.«
Der heikelste Punkt war, eine Begründung dafür zu liefern, warum ich während meiner Vernehmung Patrick beschuldigt hatte.
Die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger behaupteten, ich manipuliere, lüge und sei eine kriminelle Drahtzieherin. Mein Wort bedeute gar nichts. Das Gericht würde immer davon ausgehen, dass ich eine Lügnerin war. Und wenn ich in ihren Augen eine Lügnerin war, war es nicht mehr weit bis zur Mörderin.
Meine eigene Aussage hatte mich ans Messer geliefert. Ich hatte vor den Richtern und den Schöffen Dinge geäußert wie: »Ich wollte niemandem schaden« und »Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man manipuliert wird, wenn man denkt, dass man sich geirrt hat, wenn man solche Zweifel hat und so sehr unter Druck steht, dass man Antworten gibt, die nicht mit der eigenen Erinnerung übereinstimmen.«
Gott sei Dank hat Madison sich mit den wissenschaftlichen Untersuchungen zu falschen Geständnissen beschäftigt. Dabei stieß sie auf Saul Kassin, einen Psychologen am John Jay College of Criminal Justice in New York – spezialisiert auf Fehlurteile –, der eine Erklärung dafür lieferte, was mir passiert ist.
Vor meiner Vernehmung war ich wie viele Menschen der Überzeugung, man würde einen zu Unrecht Beschuldigten während eines Verhörs niemals von der Wahrheit abbringen, das sei unmöglich. Ich hätte nie im Leben geglaubt, dass man mich dazu verleiten könnte, etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe. Drei Jahre lang habe ich mich dafür gescholten, dass ich nicht stärker war. Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ich hatte nichts zu
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