Zeit, gehört zu werden (German Edition)

verbergen und war an der Wahrheit interessiert – ich wollte unbedingt, dass die Ermittler den Mord an Meredith aufklärten. Aber jetzt weiß ich, dass Unschuldige oft gestehen. Eine Studie hat ergeben, dass bei einem Viertel derer, die wegen eines Verbrechens verurteilt und nachträglich durch einen DNA-Beweis entlastet wurden, die DNA nicht mit der am Tatort gefundenen übereinstimmte. Die DNA-Analyse hat bewiesen, dass einer von vier Unschuldigen wie ich am Ende eine Tat gesteht, die er nicht begangen hat. Und Experten gehen davon aus, dass sogar noch mehr unschuldige Menschen gestehen, sowohl in Fällen mit als auch ohne DNA-Beweis.
    Laut Kassin gibt es verschiedene Arten falscher Geständnisse. Am häufigsten ist das »erzwungene« Geständnis. Dies geschieht oft, wenn dem Tatverdächtigen mit Strafe oder Isolation gedroht wird. Die Situation wird als so belastend und unerträglich empfunden, dass Tatverdächtige, obwohl sie wissen, dass sie unschuldig sind, schließlich nachgeben, nur damit die quälend harte Befragung aufhört. »Wenn Sie nicht gestehen, bekommen Sie dreißig Jahre Gefängnis«, droht ein Vernehmungsbeamter. »Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber das kann ich nur, wenn Sie uns helfen«, erklärt ein zweiter. Genau diese Methode guter Bulle, böser Bulle wandte die Polizei bei mir an.
    Aber mein Geständnis war nicht einfach nur erzwungen, sondern es gibt Hinweise dafür, dass ich es zudem »internalisiert« habe, das heißt, selbst für wahr hielt. Ich saß in einem stickigen Vernehmungszimmer in der questura, umgeben von Menschen, die mich anschrien, wurde in fünf Tagen dreiundvierzig Stunden lang verhört – Tag und Nacht –, bis ich irgendwann an einen Punkt kam, an dem ich nicht mehr wusste, was wahr und was falsch war. Ich fing an, die Geschichte, die mir die Polizei erzählte, zu glauben. Die Ermittler brachten mich in einen Zustand, in dem ich so übermüdet und gestresst war, dass ich mich allmählich selbst fragte, ob ich Merediths Ermordung vielleicht mit angesehen hatte und mich nur nicht mehr daran erinnerte. Ich begann, an meiner eigenen Erinnerung zu zweifeln.
    Kassin sagt, wenn ein Tatverdächtiger erst einmal an seiner eigenen Erinnerung zweifelt, hat er »vom Kopf her kaum noch eine andere Wahl, als die Version des Vernehmungsbeamten in Betracht zu ziehen, womöglich zu akzeptieren und sogar gedanklich nachzuvollziehen. So werden Überzeugungen geändert und falsche Erinnerungen erzeugt.«
    Genau das ist mir passiert. Ich war so verwirrt, dass ich mir im Kopf Bilder zurechtlegte, die mit dem von den Ermittlern erdachten Szenario, das sie mir eintrichterten, übereinstimmten. Eine kurze Zeitlang war ich gehirngewaschen.
    Drei Jahre nach dem grauenvollen Moment, in dem ich »gestand«, hatte ich einen Teil des Verhörs ausgeblendet. Aber das Gehirn besitzt das Vermögen, unterdrückte Erinnerungen wieder hervorzuholen. Mein Gehirn tut das mit Hilfe von Flashbacks – blitzartigen, schmerzvollen Erinnerungen, die mir durch den Kopf schießen und das bewusste Denken unterbrechen. Ich bekomme einen Adrenalinschub, als würde es in diesem Augenblick passieren. Ich erinnere mich an das Schreien, die drohend aufragenden Gestalten der Ermittler, ihre Hände, die mich berühren, das Gefühl der Panik und des Umzingeltseins, die unzusammenhängenden Bilder in meinem Kopf, die ich mir ausgedacht habe, um zu erklären, was mit Meredith passiert sein könnte, und zu rechtfertigen, warum die Polizei mich unter Druck setzte.
    Meine neuen Erkenntnisse führten nicht dazu, dass die Albträume und Flashbacks aufhörten, aber ich war unglaublich erleichtert zu erfahren, dass ich nicht die Einzige war, der so etwas passierte. Es gab eine Untersuchung dazu! Es hatte einen Namen! Sobald ich begriff, dass mein Geständnis nicht meine Schuld war, konnte ich mir verzeihen.
    Kassin und andere zeigen auf, dass Tatverdächtige in Verhören bewusst irregemacht und getäuscht werden.
    Ursprünglich wurde die Methode während des Koreakriegs entwickelt, um hochqualifizierte, patriotische US-Kampfpiloten dazu zu bringen, vor laufender Fernsehkamera ihr Land zu verraten. Sie stützt sich auf zwei Komponenten – wechselnde Teams von Vernehmern und eine Strategie, die Erschöpfung, Gemütserregung und Angst hervorrufen soll. Besonders wirksam ist sie bei jungen, wehrlosen Zeugen wie mir. Dabei sollen dem Verdächtigen nicht Informationen entlockt, sondern im Gegenteil eingeimpft werden, um seinen normalen