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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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Denkprozess zu unterbinden. Nach einigen Stunden gibt der Verdächtige den Vernehmern alles, was sie wollen – ob es die Wahrheit ist oder nicht.
    In meinem Fall setzten sie mich zusammen mit mehreren Vernehmern in einen Raum. Stundenlang schrien und brüllten sie mich an, um mich zu zermürben. Als sie nicht mehr konnten, wurden sie durch ein frisches Team ersetzt. Aber ich durfte nicht einmal auf die Toilette.
    Das war Teil ihrer Strategie, wie Kassin sie in seiner Studie über Polizeiverhöre On the Psychology of Confessions: Does Innocence Put Innocents at Risk? beschrieb. Bei der Lektüre erfuhr ich zu meiner Verblüffung, wie mich die Polizei mit allen Mitteln manipuliert hatte.
    Es war mitten in der Nacht. Ich war bereits seit Stunden verhört worden, tagelang. Ich musste immer wieder chronologisch schildern, was ich getan hatte. So versuchten sie mich in Widersprüche zu verwickeln. Sie wollten mich verwirren, damit ich den Faden verlor und etwas Falsches sagte. Angeblich hätte ich kein Alibi, sagten sie. Sie behaupteten, obwohl es nicht stimmte, Raffaele habe mich vor den Ermittlern der Lüge bezichtigt. Sie ließen mich meine Mutter nicht anrufen. Sie erlaubten mir nicht, den Raum zu verlassen. Sie schrien mich in einer Sprache an, die ich nicht verstand. Sie schlugen mich und deuteten an, ich hätte eine traumabedingte Amnesie. Sie ermunterten mich, mir vorzustellen, was passiert sein könnte, mich an die »Wahrheit« zu erinnern, weil ich die Wahrheit ihrer Ansicht nach wissen müsse. Sie drohten mir, mich dreißig Jahre einzusperren und zu verhindern, dass ich meine Familie sah. Damals war das alles für mich nur grauenvoll und unerträglich.
    Und genau das wollten sie.

    Manchmal stieß ich in der Urteilsbegründung auf Dinge, die ich im Nachhinein lieber anders gemacht hätte.
    Erstens: Ich hätte den Kerchers schreiben sollen. Ich hätte ihnen sagen sollen, was für eine wundervolle Tochter sie hatten und wie sehr ich sie gemocht hatte. Wie sehr sie ihre Familie geliebt hatte. Und dass ich zutiefst betrübt über ihren Tod war.
    Zweitens: Ich hätte Patrick einen Entschuldigungsbrief schreiben sollen. Ihn bei der Polizei zu beschuldigen war unverzeihlich, und er hatte es nicht verdient, aber ich wollte ihm sagen, dass es nicht an ihm lag. Man hatte mich derart unter Druck gesetzt, dass ich jeden beschuldigt hätte. Es tat mir leid.
    Damals schrieb ich ihnen nicht, weil mir Luciano und Carlo rieten, keinen Kontakt mit den Kerchers und Patrick aufzunehmen. »Sie würden es nur für eine Mitleidsmasche halten«, meinten sie.
    Das mochte in den Monaten nach meiner Verhaftung das Richtige gewesen sein, doch als meine Berufung näher rückte, musste ich diese Fehler wiedergutmachen. Ich schrieb Patrick und den Kerchers. Zunächst Patrick:
»Lieber Patrick,
die Erklärung, die Du etliche Male über meine Vernehmung gehört hast, trifft zu, und ich bin sicher, Du verstehst es gut, weil Du in derselben Nacht ohne Angabe von Gründen verhaftet wurdest.
Was meinen Beitrag dazu betrifft, fühle ich mich schuldig, und es tut mir leid.«
    Den Kerchers schrieb ich Folgendes:
»Ich bedauere Ihren Verlust zutiefst, und es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um Ihnen das zu sagen. Ich habe Ihre Tochter bzw. Schwester nicht getötet. Auch ich habe Schwestern und kann das Ausmaß Ihres Kummers nur erahnen. In der relativ kurzen Zeit unserer Bekanntschaft war Meredith immer freundlich zu mir. Ich denke jeden Tag an sie.«
    Ich zeigte Carlo die Briefe. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt«, sagte er.
    Enttäuscht und unzufrieden ging ich zurück in meine Zelle und ersann Plan B. Ich würde zu Beginn des Verfahrens eine persönliche Stellungnahme abgeben. Anders als meine Äußerungen zu Beginn des ersten Verfahrens würde diese nur auf dem Papier »spontan« sein. Unter Zuhilfenahme von Kassins Studie würde ich mein Verhalten bei meiner Vernehmung erklären. Gleichzeitig wollte ich unmittelbar Patrick und die Kerchers ansprechen.
    Ich verbrachte über einen Monat damit, verschiedene Entwürfe zu schreiben. Allein in meiner Zelle, lief ich auf und ab und murmelte vor mich hin, als würde ich zu den Richtern und Schöffen sprechen.
    Während meine Stellungnahme allmählich Gestalt annahm, beschloss ich, auf Kassin zu verzichten. Es würde einen stärkeren Eindruck hinterlassen, wenn ich frei aus dem Herzen sprach und mich nicht auf eine wissenschaftliche Studie stützte. Ich würde dem Gericht erzählen,

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