Zeit, gehört zu werden (German Edition)
meine Wärter sind. Fragen Sie sie, ob ich mich jemals gewalttätig, aggressiv oder gleichgültig gegenüber dem Leiden verhalten habe, das einem im Gefängnis begegnet. Denn ich möchte Ihnen versichern, dass dies nicht der Fall ist. Keinesfalls habe ich Ähnlichkeit mit dem Bild, das die Anklage von mir zeichnet. Wie sollte ich jemals zu solch einer schrecklichen Gewalttat wie jener fähig sein, der Meredith zum Opfer gefallen ist? Wieso sollte ich plötzlich aus purer Lust an der Gewalt einer meiner Freundinnen Schmerz zufügen, als sollte dies wichtiger und natürlicher für mich sein als meine Erziehung, meine Werte und Träume und mein gesamtes Leben? Das ist unmöglich. Dieses Mädchen bin ich nicht. Ich bin das Mädchen, das ich schon immer war. Noch einmal flehe ich Sie an, mir Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen. Raffaele und ich sind unschuldig, und wir möchten unser Leben in Freiheit verbringen. Wir sind nicht verantwortlich für Merediths Tod, und der Gerechtigkeit wird sicherlich nicht Genüge getan, indem man uns unser Leben nimmt. Ich danke Ihnen.«
Meine Hoffnung, sowohl mit Patrick als auch mit der Familie Kercher unter vier Augen reden zu können, hatte sich zerschlagen. Aber es tat gut, die Dinge auszusprechen, die mir auf der Seele lagen. Endlich habe ich das Richtige getan.
Es waren die längsten, psychisch anstrengendsten siebzehn Minuten meines bisherigen Lebens.
Und es könnte meine einzige Gelegenheit gewesen sein, falls das Gericht unserem Antrag auf neue Zeugen und eine unabhängige Überprüfung von Raffaeles Küchenmesser und dem BH-Verschluss nicht stattgab. Meine Anwälte glaubten, die Chancen für eine Bewilligung stünden gut, aber »wenn nicht«, meinte Luciano, »dann müssen Sie einfach stark sein. Wir schaffen es auch so.«
Nachdem ich meine Erklärung abgegeben hatte, fühlte ich mich erleichtert und wie reingewaschen. Ich hatte keinen sofortigen Sinneswandel erwartet – was auch nicht eintrat. Chris, meine Mutter und Madison erzählten mir später, der Anwalt der Kerchers, Francesco Maresca, habe bei der ersten Erwähnung der Familie den Gerichtssaal verlassen. »Sie langweilt mich«, zitierte ihn der Londoner Guardian . »Ihre Rede hatte keine Substanz, zielte nur darauf ab, das Gericht zu beeindrucken, und war nicht ehrlich gemeint.«
Maresca besaß kein Schamgefühl. Es war ihm wichtiger, meine Verurteilung zu erreichen, als Meredith Gerechtigkeit zu verschaffen. Immer sprach er von mir als einem Monster, das für Merediths Tod mit seinem Leben bezahlen sollte. So blieb mir nur zu hoffen, dass die Schöffen – fünf Frauen und ein Mann – anders dachten.
Mir war klar, dass wir in der ersten Instanz nicht nur aufgrund forensischen Beweismaterials verurteilt worden waren, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie unsere Anwälte uns verteidigen sollten, falls der Berufungsrichter Claudio Pratillo Hellmann und sein Beisitzer Massimo Zanetti unsere Forderungen ein zweites Mal ablehnten.
Denn genau darauf drang die Staatsanwaltschaft. Eine Berufung sei ihrer Meinung nach »sinnlos«. »Dem Gericht steht bereits ausreichend Material zur Verfügung, um zu einer Entscheidung zu gelangen.«
Da Gerichtsverhandlungen nur samstags stattfanden, mussten wir eine quälend lange Woche auf Richter Hellmanns Entscheidung warten. Währenddessen unterzeichnete Italiens Oberster Gerichtshof die letzten Papiere zu Rudy Guedes Urteil und stimmte seiner auf sechzehn Jahre verkürzten Freiheitsstrafe zu, in der Überzeugung, dass er nicht allein gehandelt hatte. Würde diese Nachricht Richter Hellmanns Entscheidung beeinflussen? Indem er unserem Antrag stattgab, würde er offensichtlich dem obersten Strafgericht widersprechen und womöglich das Ansehen der italienischen Gerichtsbarkeit gefährden.
»Glaubt ihr, das könnte uns schaden?«, fragte ich Chris und Madison bei ihrem nächsten Besuch in Capanne.
»Ich finde, du solltest weiter am Aufbau deiner cojones arbeiten«, scherzte Chris, um mich ein wenig aufzuheitern.
Als sich das Gericht an jenem Nachmittag zur Beratung zurückzog, bemühte ich mich, meine gereizten Nerven zu beruhigen. Unglücklicherweise waren während der Pausen Kameras im Gerichtssaal erlaubt, und die Fotografen verrenkten sich, um mich heranzuzoomen.
Während wir eine Stunde und einundzwanzig Minuten lang warteten, wandte ich mich gelegentlich kurz zu meiner Mutter oder Madison um. Meine Mutter schenkte mir ein nervöses Lächeln. »Nur Mut«, bestärkten
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