Zeit, gehört zu werden (German Edition)
voglio bene«, sagte ich – »ich dir auch«. Das sagen Italiener zu ihren Familien, gerade eine Stufe unter dem verliebten Ausdruck »Ti amo« – ich liebe dich.
Raffaele schaute mich ernst an, zärtlich. »Willst du meine Freundin sein?«
Wir kannten uns seit drei Tagen.
»Ja«, sagte ich und spürte einen leisen Stich, den ich als Warnzeichen betrachtete. Das geht alles zu schnell. Misst Raffaele unserer Beziehung zu früh eine zu große Bedeutung bei? Er hatte schon gesagt, er wolle mich bei seiner Abschlussfeier seiner Familie vorstellen, und er plante gemeinsame Winterwochenenden für uns in Mailand. Dabei kannten wir uns kaum.
Mir war nicht ganz klar, wie wir zusammenbleiben sollten, denn schon zwei Monate später würden wir in verschiedenen Städten leben, und ich würde im nächsten Jahr Ende des Sommers auf jeden Fall nach Seattle zurückkehren. Da ich ja in erster Linie nach Italien gegangen war, um herauszufinden, wer ich eigentlich bin, kam mir in den Sinn, dass ich vielleicht allein sein und von jetzt an alles langsamer angehen sollte, bevor es mir entglitt. Doch das zu denken hieß nicht, dass ich mich daran hielt.
Außerdem war es leicht, meine Zweifel beiseitezuschieben, denn ich mochte Raffaele wirklich. Er war so einfühlsam, und in seiner Gesellschaft kam ich zur Ruhe. Ich war in Perugia einsamer gewesen, als mir bewusst war, ohne feste Bindungen.
Rückblickend erkenne ich, dass er – und wir – noch unreif waren, eher verliebt in die Liebe als ineinander. Wir waren beide jung für unser Alter und probierten aus, was es bedeutete, eine zärtliche Beziehung zu führen.
Mit Raffaele zusammen zu sein lehrte mich viel über meine Persönlichkeit, die ich bisher so mühsam – und mit solch schmerzhaften Nachwirkungen wie bei Cristiano – verdrängt hatte. Ich begann mir einzugestehen, dass Gelegenheitssex, wie ich ihn zum Beispiel mit Mirko und Bobby gehabt hatte, nichts für mich war. Denn ich möchte mich nicht als Sexpartnerin, sondern in einer liebevollen Beziehung zum Ausdruck bringen. Obwohl ich noch nicht lange mit Raffaele zusammen war, erkannte ich, wenn ich Gefühle und Sex trennte, war ich einsamer, als hätte ich gar keinen – im Grunde genommen fühlte ich mich dann beraubt.
Ich wusste nicht, dass diese Lektion für mich zu spät kam.
Wie sich herausstellte, fiel Halloween auf den Mittwoch, an dem Raffaele und ich zusammen waren. Anders als in den USA ziehen Kinder in Italien nicht von Tür zu Tür, um Süßigkeiten einzusammeln. Trotzdem bietet Halloween in einer Universitätsstadt wie Perugia Studierenden einen unwiderstehlichen Vorwand dafür, sich zu verkleiden und zu feiern – und die Bars und Discos vor Ort kommen ihnen dabei gern entgegen. Für Klubs ist es die Nacht zum Geldscheffeln schlechthin.
Patrick hatte mich gebeten, ins Le Chic zu kommen, obwohl ich an dem Abend frei hatte, und Raffaele blieb zu Hause, um an seiner Abschlussarbeit weiterzumachen. Mein Liebesleben hielt mich so sehr gefangen, dass ich erst daran dachte, mir ein Kostüm zu kaufen, als es schon zu spät war. Daher war ich ziemlich stolz auf mich, als ich nach Durchsicht meines Kleiderschranks einen schwarzen Pullover und eine schwarze Hose fand. Raffaele half mir, mit dem Lidstift Schnurrhaare anzumalen, und dann brach ich auf, verwandelt in eine schwarze Katze. Der Aberglaube, der damit Unglück in Verbindung bringt, kam mir nicht in den Sinn.
Die Stadt war gerammelt voll, und die vielen maskierten, vermummten, perückentragenden Studierenden verliehen der Piazza Grimana etwas Unheimliches. Natürlich wusste ich, dass sie nicht bedrohlich waren, aber Kostüme haben mir immer irgendwie einen Schauder eingejagt. Als ich an den langen Menschenschlangen vorbeiging, die auf eigens von Klubs wie dem Red Zone gemietete Busse warteten, schickte ich Meredith rasch eine SMS: »Was machst du heute Abend? Wollen wir uns treffen? Hast du ein Kostüm?«
Der Staatsanwalt und die Presse verwendeten später Merediths Antwort »Ja, hab ich, aber ich muss zu einer Freundin zum Abendessen. Was hast du vor?« als Beweis für unsere strapazierte Beziehung, obwohl sie mit einem »X« für Umarmungen unterschrieben hatte. Doch Meredith hatte ihren eigenen Freundeskreis, und ich erwartete nicht, dass sie mich in alles mit einbezog. Ich schrieb meinem Freund Spyros, dem Typen, der im Internetcafé arbeitete, eine SMS, und wir verabredeten uns.
Das Le Chic, das immer so leer und trostlos wirkte, war brechend
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