Zeit, gehört zu werden (German Edition)
voll, wahrscheinlich zum ersten Mal seit seiner Eröffnung. Juve stand neben der Eingangstür. Er hatte sein Gesicht weiß geschminkt, und aus einem Mundwinkel rann falsches Blut. »Wo ist dein Kostüm?«, fragte er.
»Ich bin ein Miezekätzchen.«
»Du solltest furchterregend aussehen«, sagte Juve.
Patrick schenkte mir ein Glas Wein ein, und ich hing eine Weile am Rande der Menge herum. Aber aus irgendeinem Grund war mir ein wenig flau zumute. Ich fing Patricks Blick auf, gab ihm mit Lippenbewegungen zu verstehen: »Ich gehe«, und winkte zum Abschied. Er nickte mir zu, und schon war ich draußen.
Gegen halb eins traf ich mich mit Spyros und seinen Freunden auf einen Drink, aber ihre gute Laune steckte mich nicht an. Selbst in einer solch durchgeknallten Partynacht ließ mich der Trubel ziemlich kalt, und der ganze Abend kam mir wie ein Reinfall vor. Ich bekam Sehnsucht nach den gemeinsamen Gesprächen unter Freunden an der University of Washington und war froh, als Raffaele zur Piazza IV Novembre kam, um mich nach Hause zu bringen. Inzwischen war es Viertel vor zwei, und die meisten meiner Lidstrich-Schnurrhaare waren weggewischt. Halloween 2007 war zum Glück vorbei.
Allerheiligen, der 1. November, ist ein Feiertag, ein Tag, an dem die Toten geehrt werden. An diesem Donnerstagmorgen hörte man in Perugia nur die Kirchenglocken. Alle in meinem Alter schliefen sich wohl aus. Ich war froh, mich von Raffaele für ein paar Stunden zu trennen, um zu Hause ein wenig Zeit für mich zu haben.
Gegen Mittag saß ich am Küchentisch und las, als Filomena und ihr Freund Marco vorbeikamen, um sich für eine Party umzuziehen. Sie hatte es eilig, als sie durch ihre geöffnete Tür mit mir plauderte.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie. »Wo ist Meredith?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Warte gerade auf Raffaele, der zum Mittagessen rüberkommen will. Meredith wird wohl noch schlafen.«
Filomena und Marco waren schon eine Stunde fort, als Meredith aus ihrem Zimmer schlenderte. Sie sah verschlafen aus.
»Du hast immer noch Vampirblut am Kinn«, sagte ich.
»Ich weiß, ich hab die Farbe nicht restlos wegbekommen. Ich war so müde, als ich um fünf nach Hause kam, dass ich mir nicht mal das Gesicht gewaschen habe.«
»Was hast du denn letzte Nacht so getrieben?«
»Ich war bei einer Dinnerparty. Es war geil – sie haben einen Operationshandschuh mit Wasser gefüllt und eingefroren, damit eine Eishand daraus wurde. Die sah cool aus, wie sie da in der Bowleschale schwamm. Dann waren wir alle im Merlin tanzen« – Merediths Lieblingskneipe. »Und was ist mit dir?«
»Mein Halloween war lahm. Ich dachte, es würde Spaß machen, alle in ihren Kostümen zu sehen, aber die meiste Zeit habe ich mich gelangweilt.«
Als Meredith aus der Dusche kam, war Raffaele auch schon da. Wir saßen vor unserer Pasta, und Meredith brachte eine Ladung schmutziger Wäsche zur Waschmaschine im großen Bad. Meredith trug eine schlabberige Boyfriend-Style-Jeans.
»Geiles Mädchen, schicke Hose«, sagte ich.
»Ja, mein Ex hat sie mir gekauft«, sagte sie und stieß mich dabei mit der Hüfte an, um auf mein Kompliment zu reagieren. »Was macht ihr denn heute noch so?«
»Wir hängen hier eine Weile ab und gehen dann wieder zu Raffaele«, antwortete ich.
»Oh, cool, ich geh mit Freunden aus, einen schönen Tag noch.«
Sie nahm ihre Handtasche. »Bis später. Ciao .« Sie schlang den Riemen über die Schulter und winkte, als sie zur Haustür hinausging.
Raffaele und ich konnten unsere Zeit gut ohne Programm miteinander verbringen.
Wir chillten im Gemeinschaftsraum ab und rauchten einen Joint, während ich ungefähr eine Stunde lang Beatles-Songs auf der Gitarre spielte. Irgendwann zwischen vier und fünf Uhr nachmittags gingen wir wieder zu Raffaele, um Abendessen zu machen. Wir wollten einen ruhigen, kuscheligen Abend im Haus verbringen. Unterwegs erzählte ich Raffaele, dass Die fabelhafte Welt der Amélie mein absoluter Lieblingsfilm sei.
»Echt?«, fragte er. »Den habe ich nie gesehen.«
»Oh, mein Gott«, sagte ich ungläubig. »Du musst ihn dir auf der Stelle ansehen! Der wird dir gefallen!«
Kurz nachdem wir bei Raffaele eingetroffen waren, klingelte es an der Tür.
Es war eine Freundin von ihm, die ich noch nicht kannte – eine hübsche, bodenständige Medizinstudentin namens Jovanna Popovic, die so schnell italienisch sprach, dass ich sie nicht verstand. Sie war gekommen, um Raffaele um einen Gefallen zu bitten. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher