Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Frühstück bewirtet, und es war mir peinlich, obwohl Laura stets die freie Liebe proklamierte. Wir versuchten alle drei, unser Unbehagen zu überspielen.
Nach dem Frühstück machte sich Bobby auf den Weg zurück nach Rom, und ich brachte ihn an die Tür. Er lächelte, winkte und ging.
Ich spürte nicht dieselbe Reue wie nach dem Sex mit Mirko, aber dieselbe Leere. Ich konnte ja nicht wissen, welch hohen Preis ich für diese Affären am Ende würde zahlen müssen.
Etwas später kam Meredith die Treppe herauf. Sie hatte zum ersten Mal mit Giacomo geschlafen und war ausgelassen. Es war eine wilde Nacht in der Via della Pergola 7 gewesen, doch sie sollte einmalig bleiben.
Zwei Tage danach sagte Juve mir, Patrick sei mit meiner Arbeit nicht ganz zufrieden und wolle mich auf der Treppe vor dem duomo treffen. Ich wusste, ich war langsam im Bedienen und zog die Gäste nicht so an, wie er gehofft hatte.
Überraschenderweise war Patrick freundlich. »Du brauchst wirklich noch Zeit, um eine gute Kellnerin zu werden«, sagte er. »Wenn viel los ist, bin ich auf jemanden angewiesen, der mehr Erfahrung mitbringt. Du kannst an den Abenden weitermachen, an denen es ruhig ist – dienstags und donnerstags –, wenn du willst. So lernst du das Geschäft.«
Ich war erleichtert, denn ich schätzte das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, aber ich wusste, das war nicht der richtige Job für mich. Ich hatte meinen Namen schon bei Buchhandlungen und anderen Geschäften in der Stadt hinterlassen.
Etwas über einen Monat war ich nun in Perugia, und ich kam mir noch immer so vor, als wäre ich Seattle entrissen worden. Aber allmählich hatte ich das Gefühl, Fuß zu fassen. Ich erkannte die Gesichter wieder, an denen ich jeden Tag auf dem Weg zur Uni und zurück vorbeikam, und, was noch wichtiger war, ich spürte, dass die Entscheidungen, die ich getroffen hatte, mich weiterbrachten. Ich musste einfach nur darauf warten, wer – und was – als Nächstes kam.
5
25. Oktober – 1. November 2007
E s war Zufall.
Ich fand meine Mitbewohnerinnen durch Zufall. Ich sah das Plakat für ein Konzert eines Quintetts mit Klavier und Streichinstrumenten durch Zufall. Ich lernte Raffaele Sollecito durch Zufall kennen.
Am Donnerstag, den 25. Oktober gingen Meredith und ich zur Ausländeruniversität, um uns das Quintetto Bottesini anzuhören. Wir saßen zusammen neben der Tür des hohen Raums. Während des ersten Stückes – Astor Piazzollas Le Grand Tango – hatte ich mich an Meredith gewandt, um eine Bemerkung zur Musik zu machen, als mir zwei Jungs auffielen, die in unserer Nähe standen. Der eine war gepflegt und blass mit kurzem, strubbeligem braunem Haar und randloser Brille. Ich war sofort hingerissen von seiner unaufdringlichen Erscheinung. Ich lächelte. Er lächelte zurück.
Als Meredith in der Pause ging, um Freunde zum Abendessen zu treffen, trat der junge Mann zu mir.
»Sind die Plätze hier frei?«, fragte er auf Italienisch.
»Ja, bitte, setzen«, antwortete ich in meinem fehlerhaften Italienisch.
»Ich bin Raffaele«, sagte er auf Englisch.
»Amanda.«
Ich habe mich gefragt, was anders gelaufen wäre, wenn das nicht passiert wäre. Wenn Meredith geblieben wäre? Wenn Raffaele rechtzeitig zum Konzert gekommen wäre und einen Sitzplatz bekommen hätte? Hätten wir uns bemerkt? Hätte er, der von Natur aus schüchtern war, sich auch ohne den Vorwand des freien Platzes vorgestellt? Wäre ich anders wahrgenommen worden, wenn ich ihn nie kennengelernt hätte? Wären die nächsten vier Jahre anders verlaufen? Für mich vielleicht. Für Raffaele auf jeden Fall.
Aber wir lernten uns kennen. Und ich mochte ihn. Raffaele war ein bescheidener, nachdenklicher, respektvoller Mensch, und er trat in mein Leben, als ich einen Halt brauchte. Auch der Zeitpunkt spielte beim Zustandekommen unserer Beziehung eine Rolle. Hätte ich später im Jahr, nachdem ich Fuß gefasst und Freunde gefunden hatte, den Trost noch gebraucht, den er bot?
Während wir auf die Rückkehr des Quintetts warteten, unterhielten wir uns. Sein Englisch war besser als mein Italienisch.
»Gefällt dir das Konzert?«, fragte er.
»Ja, ich mag klassische Musik«, erwiderte ich.
»Das ist für unser Alter eher ungewöhnlich.«
Er hatte recht. Der Rest des Publikums wirkte dreimal so alt wie wir, und ich hatte bisher noch niemanden in Perugia gefunden, der über klassische Musik gesprochen hatte. Zu Hause hatte ich mir so oft wie möglich eine Freundin geschnappt und
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