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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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sie auf Studentenrabatt in die Benaroya Hall mitgenommen, um das Symphonieorchester von Seattle anzuhören.
    In der zweiten Hälfte flüsterte ich mit Raffaele genauso wie mit Meredith. Ein gemeinsames, ungewöhnliches Interesse zu haben war nett.
    Als wir aufstanden, um zu gehen, bat er mich um meine Nummer. In Perugia, wo mir diese Frage oft gestellt wurde, lautete meine Standardantwort »no« . Doch ich hielt Raffaele für einen Freak und fand ihn hinreißend – auf jeden Fall mein Typ. Er trug Jeans und Turnschuhe. An seiner Gürtelschlaufe hing, wie bei DJ, ein Taschenmesser. Mir gefielen seine dichten Augenbrauen, die sanften Augen, die hohen Wangenknochen. Er wirkte nicht so selbstsicher wie die anderen Italiener, denen ich begegnet war.
    Ich sagte: »Nachher arbeite ich im Le Chic in der Via Alessi. Komm doch vorbei.«
    Um zehn Uhr, als ich in die Bar kam, trank eine Handvoll Gäste Bier. Juve drehte die Musik laut, und ich versuchte, mich mit sinnlosen Aufgaben zu beschäftigen – die Schälchen mit Knabberzeug nachzufüllen, Tische abzuwischen, nachzusehen, ob die Toiletten sauber waren, mich prüfend im Spiegel zu betrachten. Für jede Ablenkung war ich dankbar, während ich darauf wartete, ob Raffaele auftauchen würde.
    Jedes Mal, wenn ich die Tür hörte, schaute ich auf in der Hoffnung, es wäre Raffaele. Als er mit drei Freunden hereinkam, schlug mein Magen einen nervösen Salto. Mit einer Getränkekarte und breitem Grinsen ging ich hinüber an ihren Stehtisch. Später fand ich heraus, dass Raffaele seinen Freunden versprochen hatte, sie einzuladen, wenn sie mitkämen.
    Die nächste Stunde bediente ich andere Gäste, schenkte meine Aufmerksamkeit aber eigentlich nur einem. Zum ersten Mal in meiner glanzlosen Karriere als Kellnerin tat ich genau das, worum Patrick mich die ganze Zeit schon gebeten hatte: Wie durch Zauberhand stand ich lange vor Raffaeles letztem Schluck an seinem Tisch.
    »Noch eine Runde?«, fragte ich.
    »Nein danke«, antwortete Raffaele. »Wann hast du Feierabend?«
    »Ungefähr in einer halben Stunde«, erwiderte ich. »Würdest du mich nach Hause bringen?« Die Taktik, einen Typen zu einem Spaziergang einzuladen, hatte ich in Seattle ein paarmal eingesetzt, um festzustellen, ob ich ihn wiedersehen wollte. Ein Spaziergang ist viel unverbindlicher als ein Date.
    Langsam schlenderten wir durch die Stadt, fort von unserer Villa, zur anderen Seite des Corso Vannucci, der Piazza Italia. An einem Aussichtspunkt vor einer niedrigen Backsteinmauer blieben wir stehen.
    Wir befanden uns hoch über dem Tal des Tiber und betrachteten die Lichttupfer weiter unten. »Die Stelle hier ist ideal zum Nachdenken«, sagte Raffaele. Seine Nervosität war spürbar – und ansteckend. Ein unstetes Schweigen hing zwischen uns, während wir starr geradeaus blickten, bis wir uns ganz allmählich von der Aussicht trennten und uns anschauten.
    Es war kein elektrisierender erster Kuss, der uns verband. Er war sanft und zärtlich – tröstlich und beruhigend.
    Ich weiß nicht, wie lange wir eng umschlungen dort standen. Als wir uns lösten, war die Luft so kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte. Doch ich hatte mich seit August, als ich die Menschen, die ich am meisten liebte, zum Abschied umarmt hatte, nicht so warm, sicher und umhüllt gefühlt.
    Nach einem Monat des Alleinseins hatte sich das euphorische Gefühl, mein Leben selbst in die Hand nehmen zu können, ein wenig verflüchtigt. Ich schwankte zwischen Selbstvertrauen und Hilfsbedürftigkeit. Ich genoss alles Neue und hatte Heimweh nach dem Vertrauten. Raffaele hat diese Kluft mit einem einzigen Kuss überbrückt. Seine Gegenwart war wohltuend.
    Danach gingen wir an dem Brunnen auf der Piazza IV Novembre vorbei. Noch fünf Minuten bis zur Via della Pergola. Ich wollte nichts lieber als diesen Moment ausdehnen. »Magst du Marihuana?«, platzte es aus mir heraus.
    »Das ist mein Laster«, sagte Raffaele.
    »Meins auch«, gab ich zu. Mir gefiel der Ausdruck.
    Raffaele schaute mich zunächst überrascht, dann erfreut an. »Möchtest du mit zu mir kommen und einen Joint rauchen?«
    Ich zögerte. Er war im Grunde genommen ein Fremder, aber ich vertraute ihm. In meinen Augen war er ein freundlicher, zurückhaltender Mensch. Ich fühlte mich sicher. »Ja, gern«, sagte ich.
    Raffaele lebte allein in einer makellosen Einzimmerwohnung. Ich setzte mich auf sein ordentlich gemachtes Bett, während er an seinem Schreibtisch einen Joint rollte. Kurz darauf

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