Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Mutter schickte ihr einen Koffer mit dem Bus, und Jovanna wollte fragen, ob Raffaele sie um Mitternacht zum Bahnhof fahren könnte, um ihn abzuholen.
»Klar«, sagte Raffaele.
Sobald sie gegangen war, luden wir den Film auf seinem Computer herunter und setzten uns auf sein Bett, um ihn anzuschauen. Gegen halb neun fiel mir plötzlich ein, dass Donnerstag war, einer meiner regulären Arbeitstage. Rasch schaute ich auf mein Handy und sah, dass Patrick mir eine SMS geschickt hatte, um mir mitzuteilen, ich brauchte nicht zu kommen. Da Feiertag war, ging er davon aus, dass es ein ruhiger Abend werden würde.
»O.k.«, schrieb ich zurück. »Ci vediamo piu tardi. Buona serata!« – »Bis später. Gute Nacht!« Dann schaltete ich mein Handy ab, falls er es sich anders überlegte und doch wollte, dass ich kam. Ich war so froh, den Abend frei zu haben, dass ich mich auf Raffaele warf und jubelte: »Juch-hu! Juch-hu!«
Unsere gute Laune wurde noch besser, als es um Viertel vor neun wieder klingelte. Jovanna war es noch einmal, diesmal, um zu sagen, das mit dem Koffer habe nicht geklappt und sie müsse nun doch nicht zum Bahnhof gefahren werden. Damit hatten wir den ganzen Rest des Abends nur für uns, zum Abchillen, ohne weitere Verpflichtungen.
Als der Film zu Ende war – gegen Viertel nach neun –, brieten wir uns schnell ein Stück Fisch und machten einen einfachen Salat. Wir spülten gerade, als wir merkten, dass die Spüle in der Küche leck war. Raffaele, der schon einmal einen Klempner gerufen hatte, war genervt und versuchte hektisch, das ganze Wasser mit einem viel zu kleinen Lappen aufzuwischen. Am Ende hinterließ er eine Pfütze.
»Ich bringe morgen den Mopp von uns mit. Kein Problem«, sagte ich.
Raffaele setzte sich an seinen Schreibtisch und drehte einen Joint, und ich setzte mich auf seinen Schoß, um ihm aus einem weiteren Harry-Potter-Buch vorzulesen, auf Deutsch diesmal. Ich übersetzte die Teile, die er nicht verstand, so gut es ging ins Italienische oder ins Englische, während wir rauchten und kicherten.
Später, als wir im Bett lagen, kamen wir auf seine Mutter zu sprechen. Sein Vater hatte sich vor Jahren scheiden lassen, aber sie hatte die Trennung nie überwunden. 2005 war sie plötzlich gestorben. »Manche haben den Verdacht, dass sie sich umgebracht hat, aber ich bin mir sicher, dass es nicht so war«, sagte Raffaele. »Das hätte sie nie getan. Sie hatte es am Herzen, und das hat einfach aufgehört zu schlagen. Es war schrecklich für mich. Wir standen uns wirklich nah, und ich vermisse sie noch immer.«
Er tat mir sehr leid, doch es fiel mir schwer, seine Trauer nachzuempfinden. Bisher war nur ein einziger mir Nahestehender gestorben: mein Großvater. Mit meinen damals sechzehn Jahren war ich traurig gewesen, als meine Mutter es mir sagte, doch mein Großvater war alt und krank gewesen, und wir hatten seit einigen Wochen mit seinem Tod gerechnet.
Meine Mutter und meine Oma werden bestimmt geweint haben, doch am intensivsten ist mir in Erinnerung geblieben, wie wir um den Esstisch saßen und uns lustige Geschichten über Opa erzählten. Die Botschaft meiner Großmutter – dass man nur im stillen Kämmerlein trauert; dass man nichts öffentlich zur Schau stellt und nach vorn schaut – habe ich behalten.
Als ich den Schmerz in Raffaeles Stimme vernahm, tat er mir schrecklich leid. Ich legte den Kopf an seine Brust und versuchte, ihn zu trösten.
Wir fingen an, uns zu küssen, und Raffaele machte mir einen Knutschfleck am Hals. Wir zogen uns auf dem Weg ins Bett aus, hatten Sex und schliefen ein.
Wir kannten uns seit genau einer Woche und hatten uns so schnell in eine lässige Routine eingelebt, dass jede Nacht glücklich und unterschiedslos in die nächste überzugehen schien.
Wir hatten jedoch vor, unsere Routine am nächsten Tag, Allerseelen, zu durchbrechen und eine ausgedehnte Fahrt aufs Land zu unternehmen, bis ins benachbarte Gubbio. Der Feiertag am 2. November wurde für gewöhnlich nicht mit so viel Trara begangen wie Allerheiligen, doch da er 2007 auf einen Freitag fiel, machten viele ein verlängertes Wochenende daraus. Ich dachte, die Italiener genießen mal wieder das Leben . Und ich konnte es kaum erwarten.
6
Vormittag des 2. November 2007,
erster Tag
A n diesem kalten, sonnigen Freitagvormittag ließ ich Raffaele schlafend in seiner Wohnung zurück und ging nach Hause, um zu duschen und meine Sachen zu packen. Ich dachte an unser romantisches Wochenende in den
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