Zeit, gehört zu werden (German Edition)
körperlosen Stimmen meiner Angehörigen. Ich brauchte den Ballast, mit dem mich meine Mitbewohnerinnen beladen würden. Wir saßen um den Küchentisch einer Freundin und unterhielten uns, während Laura und Filomena Kette rauchten. Es war schön, mit ihnen zu plaudern. Die Situation fühlte sich so normal an wie nur irgend möglich, und wir ergingen uns unverzüglich in Spekulationen darüber, was in der Villa geschehen sein mochte. In einem Szenario war Meredith ins Haus gekommen und hatte die Haustür hinter sich abgeschlossen; dann brach der Mörder ein und fand sie dort vor. Nachdem er sie umgebracht hatte, stahl er ihren Schlüssel, um die Haustür aufzusperren, lief weg und ließ die Tür im eisigen Novemberwind offen hin- und herschwingen. In einem anderen war Meredith allein nach Hause gekommen und hatte dort den Mörder angetroffen, der drinnen auf den richtigen Moment wartete, auf die erste Person, die durch die Tür kam. Ich erzählte ihnen vom Blut in der unteren Wohnung und von meiner Angst, dass Meredith dort herumgejagt worden sein könnte.
All diese Möglichkeiten ließen mich frösteln.
»Ich finde es merkwürdig, dass der Täter nur ein Zimmer verwüstet und nichts gestohlen hat. Was glaubt ihr, warum?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, sagte Laura. »Wir müssen die Polizei einfach ihre Arbeit machen lassen. Ich bin sicher, die finden es heraus.«
»Die Polizei nimmt mich dauernd in die Mangel«, sagte ich.
»Ich weiß, es ist schwer, Amanda«, sagte Filomena. »Du musst einfach Geduld haben. Sie sind auf dich fixiert, weil du Meredith besser gekannt hast als wir.«
Laura und Filomena konsultierten beide einen Anwalt, um aus dem Mietvertrag herauszukommen. Zweifellos berieten ihre Anwälte sie auch in anderen Dingen, zum Beispiel, was den Umgang mit der Polizei und unsere Kifferei betraf, aber von alldem sagten sie nichts.
»Ist es in Ordnung für dich, dass du bei Raffaele wohnst? Wie läuft es denn so?«, fragte Laura. »Filomena und ich denken daran, uns eine andere Wohnung zu nehmen.«
»Hättet ihr was dagegen, wenn ich wieder bei euch einziehe?«
»Natürlich kannst du bei uns wohnen«, erklärte Laura.
Sie umarmten mich beide.
»Keine Sorge. Das wird alles wieder«, sagte Filomena.
Wir hatten gehört, dass Merediths Eltern nach Perugia kommen würden, und wir beschlossen, uns alle gemeinsam mit ihnen zu treffen.
»Sie würden bestimmt gern hören, wie nett Meredith zu uns war«, meinte Filomena.
Es war schon nach Mitternacht, als Raffaele und ich schließlich in seine Wohnung zurückkehrten. Ich blieb noch auf, surfte im Internet und suchte nach Artikeln über den Fall. So viele Antworten die Polizei auch von mir hatte haben wollen, sie selbst rückte nur wenige Informationen heraus. Dann schrieb ich eine lange E-Mail an alle daheim, in der ich die Geschehnisse seit meiner Rückkehr zur Villa am Freitagvormittag schilderte. Ich schrieb sie schnell, ohne viel darüber nachzudenken, und schickte sie morgens um Viertel vor vier ab.
Auch in dieser Nacht fand ich nur unruhigen Schlaf.
9
4. November 2007,
dritter Tag
H ätte ich in den Tagen nach der Entdeckung von Merediths Leiche überhaupt darüber nachgedacht, wäre mir meine Unschuld so offensichtlich erschienen, dass sie eigentlich für jedermann außer Frage hätte stehen müssen. Meine Annahme, ich bräuchte keinen Schutz, machte mich verwundbar.
Möglicherweise hätte sich meine Einstellung geändert, wenn ich an jenem Morgen einen Artikel in der Mail on Sunday, einer Londoner Boulevardzeitung, gelesen hätte. Darin hieß es, die italienische Polizei befasse sich mit der Möglichkeit, dass der Mörder eine Frau gewesen sei – jemand, den Meredith gut gekannt habe. »Wir befragen ihre Mitbewohnerinnen wie auch ihre Freundinnen«, hatte eine hochrangige Kriminalpolizistin erklärt.
Vielleicht hätte ich aber auch einfach gedacht: Laura ist es nicht, Filomena auch nicht, und ich bin es ebenso wenig. Wen könnten sie da im Visier haben?
Als Erstes wollte die Polizei in der questura an diesem Tag eine Liste sämtlicher Männer haben, die jemals in unserer Villa gewesen waren. Wie tags zuvor bedrängten sie mich mit Fragen wie »Wer würde Ihrer Meinung nach so etwas tun? Kennen Sie jemanden, der Meredith nicht mochte? Gibt es jemanden, der ein Motiv gehabt haben könnte?«.
Als ich an diesem Nachmittag wieder allein war, hing ich, übermannt von Erschöpfung und Emotionen, auf einem der harten Plastikstühle im
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