Zeit, gehört zu werden (German Edition)
sie hinauswollte. Für welchen Fall des Falles, dachte ich.
Ich war naiv und komplett überfordert. Außerdem neigte ich von Natur aus dazu, nur das zu sehen, was ich sehen wollte. Aber vor allem war ich unschuldig. Es gab so viele Was-wäre-wenn-Fragen, dass ich gar nicht erst anfing, darüber nachzudenken. Was wäre, wenn ich den Bunny-Vibrator nicht in meine durchsichtige Kosmetiktasche gepackt hätte? Wenn ich mir nicht die freie Liebe auf die Fahnen geschrieben hätte? Wenn Raffaele und ich nicht so unreif gewesen wären? Wenn ich heimgereist wäre – oder nach Hamburg? Wenn ich meine Mutter sofort gebeten hätte, zu kommen und mir zu helfen? Wenn ich Dollys Rat befolgt hätte? Wenn ich mir einen Anwalt genommen hätte?
10
5. November 2007,
vierter Tag
D ie Polizistin Rita Ficarra schlug mir mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Ich war wie betäubt, aber das lag eher am Schock als an der Wucht des Schlages. Ich hatte nicht damit gerechnet, geschlagen zu werden. Ich drehte mich um und wollte »Lassen Sie das!« rufen; mein Mund war bereits halb geöffnet. Doch ehe ich wusste, wie mir geschah, spürte ich schon einen weiteren Schlag, diesmal über dem Ohr. Sie stand direkt neben mir und beugte sich über mich. Ihre Stimme war genauso hart wie ihre Hand. »Hören Sie auf zu lügen, hören Sie auf zu lügen«, fuhr sie mich an.
Fassungslos rief ich: »Weshalb schlagen Sie mich?«
»Damit Sie besser aufpassen«, sagte sie.
Ich hatte keine Ahnung, wie viele Polizisten sich in dem kleinen, engen Raum drängten. Manchmal waren es zwei, manchmal acht – sie kamen herein, gingen hinaus und schlossen dabei immer die Tür hinter sich. Sie ragten über mir auf, und alle schrien das Gleiche: »Sie müssen sich erinnern. Sie lügen. Hören Sie auf zu lügen!«
»Ich sage die Wahrheit«, beharrte ich. »Ich lüge nicht.« Mir war, als würde ich ersticken. Es gab keinen Ausweg. Und sie schrien immer weiter auf mich ein und bombardierten mich mit Unterstellungen.
Die Behörden, denen ich vertraute, hielten mich für eine Lügnerin. Aber ich log nicht. Ich verwendete meine wenigen verbliebenen Kräfte darauf, ihnen zu zeigen, dass ich die Wahrheit sagte. Dennoch konnte ich sie nicht dazu bewegen, mir zu glauben.
Wir begegneten uns nicht einmal annähernd auf Augenhöhe. Ich war zwanzig und kaum mit ihrer Sprache vertraut. Sie kannten nicht nur die Gesetze, sondern es war auch ihre Aufgabe, Menschen zu manipulieren. Sie mussten Verbrecher drangsalieren, einschüchtern und demütigen, um ihnen Geständnisse abzuringen. Sie versuchen, den Leuten Angst einzujagen, Zwang auf sie auszuüben, sie in den Wahnsinn zu treiben. Darin besteht ihre Arbeit. Ich befand mich in ihrem Verhörraum. Ich war umringt von Polizisten. Ich war allein.
Niemand setzte mich über meine Rechte in Kenntnis. Ich hatte keine Ahnung, dass ich die Aussage verweigern konnte. Ich war davon überzeugt, dass man seine Unschuld mit Worten beweisen musste. Wenn man schwieg, hieß das unweigerlich, dass man ein Verbrecher war.
Ich begann ihnen mehr zu vertrauen als mir selbst. Man setzte mich dermaßen unter Druck, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich verlor meinen Realitätssinn und hätte alles Mögliche geglaubt – und gesagt –, um der Quälerei ein Ende zu machen.
An diesem Montagmorgen berichtete die britische Boulevardpresse in großer Aufmachung über Merediths Autopsiebericht. Daraus ging hervor, was für ein gnadenloses, höllisches Ende ihr Leben genommen hatte. Die tödlichen Stiche, erklärte der Gerichtsmediziner, seien mit einem Taschenmesser verübt worden. Unter Merediths Fingernägeln habe man Haut und Haare gefunden, was zeige, dass sie mit dem Mörder um ihr Leben gekämpft habe. Mysteriöserweise hieß es in einigen Pressemeldungen, etwas in diesem Bericht habe die Polizei veranlasst, Filomena, Laura und mich noch einmal zur Villa zu bringen. Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, was das gewesen ist.
Es gab Hinweise darauf, dass Meredith penetriert worden war, aber keine Beweise für eine Vergewaltigung. Allerdings hatte der Mörder andere Spuren hinterlassen, die die Polizei zu ihm führen würden: einen blutigen Handabdruck an der Wand, einen blutigen Schuhabdruck auf dem Fußboden. Ein blutgetränktes Taschentuch hatte in der Nähe auf der Straße gelegen. Als sich die Geschichten häuften, wurde ich als Einzige von Merediths drei Mitbewohnerinnen durchweg beim Namen genannt: »Amanda Knox, eine
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