Zeit, gehört zu werden (German Edition)
ich vergessen konnte, einen Mord mit angesehen zu haben. Doch trotz meiner Ungewissheit dachte ich, ich sollte ihr glauben.
Ich versuchte, die Bilder, die in der vergangenen Nacht vor meinem geistigen Auge aufgeblitzt waren, in eine stimmige Abfolge zu bringen. Aber meine Erinnerungen an Patrick, die Villa und Merediths Schreie waren unzusammenhängend, wie Stücke verschiedener Puzzles, die versehentlich in derselben Schachtel gelandet waren. Sie sollten gar nicht zusammenpassen. Ich war jeden Tag am Basketballplatz in der Nähe meines Hauses vorbeigekommen. »Es war Patrick«, hatte ich gesagt, weil ich sein Gesicht gesehen hatte. Ich hatte ihn mir in seiner braunen Jacke vorgestellt, weil er die normalerweise trug. Je mehr ich erkannte, wie zerstückelt diese Elemente waren, desto klarer wurde mir, dass es sich um keine richtigen Erinnerungen handelte.
Plötzlich leuchtete mein Handy auf – es lag auf dem Tisch, seit sie es mir vor die Nase gehalten hatten – und begann zu klingeln. Ficarra ignorierte es. »Darf ich drangehen?«, bat ich. »Das ist bestimmt meine Mutter – ich soll sie vom Bahnhof abholen. Sie flippt aus, wenn ich mich nicht melde.«
»Nein«, sagte Ficarra. »Sie können Ihr Telefon nicht wiederhaben. Es ist ein Beweismittel.«
Dieser Moment zeigte beispielhaft, wo die Linie zwischen vorher und nachher verlief. Ich bestimmte nicht mehr über mich selbst.
In der nächsten halben Stunde klingelte das Handy alle paar Minuten und hörte nur auf, während die Anrufe auf die Mailbox gingen. Das Geräusch zerrte an mir, ich geriet in Panik und zitterte am ganzen Leib. Meine Mutter würde krank vor Sorge sein und sich fragen, was mir zugestoßen war, wo ich mich befand, weshalb ich mich nicht meldete. Wenn ich als Teenager mit einem Anruf zu spät dran gewesen war, hatte sie mich immer wieder zu erreichen versucht, bis ich schließlich abnahm, und fast immer hörte ich sie dann am anderen Ende der Leitung weinen. Ich konnte es nicht ertragen, dass ich ihr das jetzt zumuten musste. Und ich brauchte sie nun mehr denn je.
Schließlich schwieg das Telefon. Ich sackte auf meinem Klappstuhl zusammen, so stumm wie mein Handy.
Ich wartete darauf, dass die Polizei mir sagte, was sie als Nächstes von mir wollte. So war es auf der questura in den letzten vier Tagen immer gelaufen. Es würde eine Pause geben, und danach würden sie mich entweder erneut befragen oder nach Hause schicken. Ich wünschte mir inständig, es wäre Letzteres. Ich würde es nicht aushalten, wenn sie mich wieder anschrien.
Gegen zwei Uhr nachmittags – es war immer noch Dienstag, derselbe Tag, obwohl es sich so anfühlte, als müssten schon zwei Wochen vergangen sein – ging Ficarra mit mir in die Kantine.
Ich war am Verhungern. Zum ersten Mal, seit Raffaele und ich am Montagabend gegen zehn Uhr in der questura eingetroffen waren, bekam ich etwas zu essen und zu trinken. Da meine Turnschuhe beschlagnahmt waren – die Polizei hatte sie von mir haben wollen, nachdem ich die erste Aussage unterzeichnet hatte, um Viertel vor zwei –, folgte ich Ficarra auf Strümpfen die Treppe hinunter. Sie drehte sich um und sagte: »Tut mir leid, dass ich Sie geschlagen habe. Ich wollte Ihnen nur helfen, sich an die Wahrheit zu erinnern.«
Ich war immer noch zu verwirrt, um zu erkennen, was die Wahrheit war.
»Sobald sich das alles klärt«, wollte ich sagen, »sehen Sie hoffentlich, dass ich auf Ihrer Seite bin.« Aber in meinem Italienisch wurde daraus: »Sie können hoffentlich sehen, dass ich Ihre Freundin bin.«
Ich sehnte mich nach einem Zeichen, dass zwischen uns alles in Ordnung war. Einer Bestätigung, dass die Polizisten mir noch vertrauten. Sie hatten mich schikaniert, sagte ich mir, weil sie derart unter Stress standen und unbedingt herausfinden wollten, wer Meredith umgebracht hatte. Mir ging es genauso. Doch als ich die Nacht noch einmal Revue passieren ließ, gelangte ich zu dem Schluss, dass sie dachten, ich würde ihnen Fakten vorenthalten und lügen. Deshalb waren sie böse auf mich.
Ich wollte nicht, dass sie mich für einen schlechten Menschen hielten. Ich wollte, dass sie mich so sahen, wie ich war – Amanda Knox, eine gute Schülerin, die ihre Eltern liebte, Autoritäten respektierte und nur ein einziges Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, als sie mit ihren Mitbewohnern in Seattle eine College-Party gefeiert hatte und wegen des Verstoßes gegen Lärmschutzvorschriften mit einer Geldstrafe belegt worden war.
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