Zeit, gehört zu werden (German Edition)
äußeren Schamlippen und schob sie dann mit den Fingern auseinander, um die inneren zu untersuchen. Er vermaß und fotografierte meine Geschlechtsteile. Ich verstand nicht, weshalb sie mich so behandelten. Warum tun sie das, dachte ich. Wozu soll das gut sein?
Der Arzt und die Schwester waren nicht grob zu mir, aber das spielte keine Rolle. Derart ausgestellt zu werden, nackt, vor Fremden, während sie über mich sprachen, war das Entwürdigendste und Erniedrigendste, was ich je erlebt hatte. Ich protestierte nicht. Ich wartete schweigend und zornig und fühlte mich missbraucht. In meinem Kopf schrie ich: Hört auf! Hört sofort auf!
Als Nächstes untersuchten sie meinen ganzen Körper nach Schnittwunden und blauen Flecken, wühlten sich durch meine Haare, um an meine Kopfhaut heranzukommen, und sahen sich meine Fußsohlen an. Eine Polizistin zeigte auf verschiedene Stellen, die untersucht und dokumentiert werden sollten. Ich dachte: Warum messen sie, wie lang meine Arme und wie breit meine Hände sind? Was spielt es für eine Rolle, wie groß meine Füße sind? Später, als ich von ihrer Theorie erfuhr, dass Merediths Ermordung ein Sexualverbrechen gewesen sei, wurde mir klar, dass sie die Tat mit meinen Körpermaßen in Übereinstimmung zu bringen versuchten. Wie wären Merediths Wunden beschaffen, wenn ich sie erstochen hätte? Konnte ich sie in Anbetracht meiner Größe überhaupt erstochen haben? Sie fotografierten alles, wovon sie dachten, es könnte von Belang sein.
Ich zeigte ihnen den Knutschfleck, den Raffaele mir verpasst hatte. Er war nur noch eine blassrosa Verfärbung an meinem Hals, aber ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als würde ich etwas vor ihnen verbergen. Die Polizistinnen wirkten völlig desinteressiert und verzeichneten ihn nur nebenbei. Aber während des Prozesses benutzte ihn die Anklage als Beweis für eines ihrer sich ständig verändernden Szenarien.
Raffaele. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Wie konnte der Mensch, dem ich mich so nahe gefühlt hatte, mich im Stich lassen? Hatte er wirklich gesagt: »Amanda ist in dieser Nacht weggegangen«, und: »Amanda hat von mir verlangt, für sie zu lügen«? Oder behauptete die Polizei das bloß? Ich wusste nicht mehr, wem ich trauen konnte. Ich fühlte mich verraten und allein.
Am allermeisten sehnte ich mich nach meiner Mutter. Sie würde mir helfen zu begreifen, was geschehen war, und mich aus diesem Albtraum befreien. Wo ist sie? Wie kann ich sie erreichen? Wartet sie am Bahnhof auf mich?
Schließlich durfte ich mich wieder anziehen. Außer den Wanderschuhen hatten mir die Polizisten noch einen dünnen Rock aus der Villa mitgebracht. Das war ein derart lachhaftes Kleidungsstück für den November, dass ich ihn in meine Handtasche stopfte und wieder auf Raffaeles Sachen zurückgriff, die ich vorher getragen hatte.
Ich bat darum, zur Toilette gehen zu dürfen. Eine Polizistin stellte sich vor die Kabine; die Tür war offen. Warum steht sie da? Ich kann mich nicht genug entspannen, um zu pinkeln, selbst wenn sie wegschaut. Ich nahm an, diese unerwünschte Bewacherin sollte irgendwie dafür sorgen, dass mir nichts zustieß.
Schließlich schob ich meine Hemmungen lange genug beiseite, um pinkeln zu können. Anschließend legten sie mir wieder Handschellen an. Ich glaube, sie schlossen sie absichtlich nicht sehr fest, aber ich war so unterwürfig, dass ich es meldete. »Verzeihung«, sagte ich. »Aber ich kann meine Hand rausziehen.«
Sie schlossen sie fester.
Dann zogen sie mir eine Wollmütze über die Augen. »Kopf runter«, befahl Ficarra. »Nicht hochschauen.« Sie murmelte etwas von »Journalisten«.
Wir standen in der dunklen Eingangshalle. Niemand sagte ein Wort. Ich schaute mit gesenktem Kopf zu Boden, als ich plötzlich Raffaeles Füße vor mir erkannte. Meine Brust zog sich zusammen. Seit wir in die questura gekommen waren, hatte ich ihn nicht mehr gesehen, und ich hatte keine Ahnung, woher er jetzt kam – oder warum er nur ein paar Schritte vor mir ging. Ich wollte so gern etwas sagen, aber ich wusste, dass ich keinen Laut von mir geben sollte.
Ich wünschte mir nur, dass diese Tortur ein Ende nahm.
Ich machte mir große Sorgen um Patrick. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, dachte ich, wenn ich mich nicht zweifelsfrei erinnerte, was in der Nacht von Merediths Ermordung geschehen war. Als ich bei meiner Vernehmung gesagt hatte: »Es war Patrick«, hatten die Polizisten unbedingt wissen wollen, wo er
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