Zeit, gehört zu werden (German Edition)
freilassen würde, sobald ich das Missverständnis mit der Polizei aufklären konnte. In wenigen Stunden oder vielleicht in ein, zwei Tagen. Nicht mehr als in dreien – und ganz sicher bliebe ich so lange in einer speziellen Zelle, nicht im eigentlichen Gefängnis. Ich sah mich schon in meinen Wanderstiefeln ausschreiten, Büchertasche über der Schulter – mit meiner Mutter, die mich an der Hand hielt.
»Und jetzt husten«, sagte Lupa.
»Was?«, fragte ich verwirrt.
»Husten Sie.«
Sie machte ein Hustengeräusch. Ich tat es ihr nach.
»Gut. So ist es recht.«
Dann gab sie mir meine Kleidung zurück, und ich zog mich wieder an. Aber ich war noch immer ohne Schuhe. »Che taglio di scarpa porti?«, fragte sie und deutete dabei auf meine Füße – »Welche Schuhgröße haben Sie?«
»Porto un trenta-nove«, sagte ich leise. Größe neununddreißig.
»Schau doch mal, ob du in der Kleiderkammer der Nonnen was findest«, sagte Lupa zu Cinema.
Der Frauentrakt in Capanne wurde sechs Tage pro Woche von einem Geistlichen und fünf Nonnen betreut, die dort einsprangen, wo der italienische Staat sich für nicht zuständig erklärte – wozu auch unsere Bekleidung gehörte, da es keine Anstaltsuniformen gab. Die Nonnen unterhielten ein kleines Lager mit gespendeter Kleidung, wovon sie den Häftlingen je nach Bedarf gaben – das meiste davon abgetragen und ausgeleiert.
Agente Lupa zog einen dicken schwarzen Müllbeutel aus einem noch viel größeren Behälter und ließ ihn vor mir fallen. Es gab ein klirrendes Geräusch. Ich fuhr mit der Hand unter die kratzige graue Wolldecke, die zusammengefaltet obenauf lag, und förderte eine Schüssel zutage, einen Teller, einen Löffel und eine Gabel aus Blech, eine Plastiktasse, eine Zahnbürste, Zahnpasta, eine Plastiktüte mit riesigen Monatsbinden, eine Rolle hartes braunes Klopapier und zwei Schwämme – einen für die Dusche und den anderen fürs Geschirr. »Ihre Grundausstattung«, sagte Lupa.
Ich spürte einen Würgreiz in der Kehle. Da hielt ich nun einen Beutel mit den wenigen Dingen in der Hand, die von Staats wegen als lebensnotwendig galten, auch für mich. Ich war im Gefängnis und allein.
In dem Moment redete ich mir so gut zu, wie ich nur konnte. Das hier ist nur vorübergehend – ein dämliches bürokratisches System, an dem sich nichts ändern lässt. Wie bei einer Fahrt mit der Achterbahn, in die ich unabsichtlich eingestiegen bin und aus der ich nicht rauskomme, bis sie all ihre Loopings gedreht hat. Es ist meine eigene Schuld. Ich bin verantwortlich für diese Verwirrung. Jetzt muss ich mich anstrengen, die ganze Sache aufzuklären.
Tränen liefen mir über die Wangen.
»Na, na! Kommen Sie! Seien Sie tapfer. Das wird schon«, sagte Lupa.
Gleich darauf kam Cinema mit einem Paar abgetragener rostfarbener Pantoffeln zurück, in die ich meine Füße mitsamt der Socken zwängte.
»Ja, passt doch«, sagte Lupa mit beifälligem Nicken. Sie nahm mich am Oberarm, ich griff nach dem Müllbeutel, und Cinema machte die Tür zum Eingangsraum auf. Ich schlurfte in den abgelegten Pantoffeln einer Fremden hinaus.
Vice commandante Argirò, den ich direkt vor meiner Leibesvisitation kennengelernt hatte, war dünn, vermutlich in den Fünfzigern, mit einer großen Hakennase, die sein eher schlaffes Gesicht dominierte, und einem Buckel zwischen den Schulterblättern. Er sprach seinen Namen laut, deutlich und langsam aus. »Ar-gi-rò«, sagte er. »Capi-sci l’i-taliano?« Ob ich Italienisch verstand? Ich nickte. »Bene«, sagte er und redete daraufhin etwas schneller. »Sono vice commandante. Capisci?«
»Si«, sagte ich. Ja, ich hatte verstanden, dass er Vizekommandant war, und glaubte, das hieße, er sei der zweithöchste in der Gefängnishierarchie.
Als ich vom Streifenwagen ins Gebäude gebracht worden war, hatte ich Raffaele durch ein vergittertes Glasfenster gesehen, eingesperrt in einen Korridor neben dem Eingang zum Gefängnis. Er trug seine graue Jacke mit dem Kunstfellbesatz und tigerte auf und ab, den Kopf gesenkt. Zum ersten Mal, seit wir getrennt worden waren, bekam ich mehr als seine Füße zu sehen. Er blickte mich nicht an. Ich fragte mich, ob er mich aus irgendwelchen Gründen hasste. Raffaele und ich waren nicht lange zusammen gewesen, aber ich hatte geglaubt, ihn gut zu kennen. Nun war mir, als würde ich ihn überhaupt nicht kennen.
Ich fragte mich, warum man ihn hierhergebracht hatte, was er nach Ansicht der Polizei wusste, was die
Weitere Kostenlose Bücher