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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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wohnte. Kaum hatte ich den Namen seines Viertels genannt, waren gleich mehrere von ihnen hinausgelaufen. Ich dachte, sie hätten sich aufgemacht, um ihn zu befragen. Ich wusste nicht, dass es schon zu spät war, dass sie mitten in der Nacht eine Razzia in Patricks Haus durchgeführt und ihn festgenommen hatten.
    Dann öffneten sich die Türen der questura, und ich wurde hinausgeführt. Niemand hatte mir gesagt, dass meine Aussagen publik gemacht worden waren. Ich hielt den Kopf gesenkt und bekam deshalb gar nicht mit, dass Fotografen da waren, die mich ablichteten. Und ich konnte auch nicht wissen, dass die Polizei eine Pressekonferenz abhalten und dort verkünden würde: »Caso chiuso« – »Fall abgeschlossen«. Oder dass Nachrichtenseiten im Netz an diesem Abend melden würden, Raffaele, Patrick und ich seien wegen »einer auf schreckliche Weise aus dem Ruder gelaufenen sexuellen Begegnung« verhaftet worden.
    Wenn ich mir diese Fotos jetzt anschaue – ich stehe in Raffaeles zu großer Trainingshose und Fleece-Jacke da, eine graue Wollmütze über die Augen gezogen –, erinnere ich mich, dass ich die Anweisungen der Polizisten befolgte wie ein bemitleidenswertes, verlorengegangenes Kind. Ich stellte keine Fragen, erhob keine Einwände, sondern senkte nur den Kopf, wenn sie es mir befahlen, und vertraute darauf, dass all das bald einen Sinn ergeben würde. In diesem Moment besaß ich nicht den geringsten Durchblick – und das hatte nichts mit der Mütze zu tun.
    Halb trug man mich, halb schob man mich aus dem Gebäude. Ficarra und eine andere Polizistin hielten mich unter den Armen gepackt. Sie bugsierten mich in den Streifenwagen und stiegen dann links und rechts neben mir ein. »Legen Sie den Kopf während der Fahrt auf die Knie«, befahl eine der Polizistinnen. »Richten Sie sich nicht auf.«
    Sirenen heulten.
    Ich habe inzwischen gelesen, der Streifenwagen-Konvoi sei mit einem triumphierenden Hupkonzert durch Perugia defiliert. Ich weiß nur, dass wir die gewundenen Straßen in einer Woge aus Lärm entlangrasten. Wir fuhren so schnell, dass ich Angst hatte, mir würde auf dem Rücksitz übel werden. Die halbstündige Fahrt kam mir endlos vor. Die Polizistinnen behielten die Hände auf meinem Rücken und drückten mich nach unten; meine auf den Knien liegenden Unterarme pressten sich in meine Augenhöhlen. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, schwebte ich dahin, als wäre ich meinem Körper entronnen. Ich wünschte mir, ich könnte meinem Körper entrinnen.
    Schließlich fuhr unser Wagen durch das Haupttor der Casa Circondariale Capanne di Perugia – nicht dass ich gewusst hätte, wo wir uns befanden – und hielt in einer matt erleuchteten, höhlenartigen Garage. Als sich die Torflügel rumpelnd schlossen, durfte ich mich aufsetzen. Ein uniformierter Gefängniswärter kam herbei, und ich versuchte, seinen Blick auf mich zu lenken. Ich wollte, dass mich jemand – irgendwer – anschaute und so sah, wie ich war: Amanda Knox, eine verängstigte Zwanzigjährige. Er blickte durch mich hindurch.
    Das Innentor der Garage fuhr hoch, und wir rollten auf das Gefängnisgelände. Mir drehte sich der Magen um. Betonmauern, hell erleuchtet von orangefarbenen Lampen und gekrönt von Stacheldrahtrollen, reckten sich in allen Richtungen zum Nachthimmel empor. Ich fühlte mich so klein und eingeschüchtert wie noch nie in meinem Leben.
    Wir hielten vor einem einstöckigen Gebäude im Zentrum des Komplexes, wo ein leerer Streifenwagen stand. Raffaeles Wagen? Auf ein Handzeichen unseres Fahrers hin schritt Ficarra direkt vor mir ins Gebäude. Die andere Polizistin ging hinter mir, und beide hielten mich an einem Arm fest. Sobald wir drinnen waren, ließen sie mich los. »Hier werden Sie vorläufig bleiben«, sagten sie. Eine von ihnen beugte sich vor und umarmte mich schnell und unbeholfen. »Es wird schon alles gut werden. Die Polizei wird sich um Sie kümmern.«
    »Danke«, sagte ich und warf ihr einen letzten, flehentlichen Blick zu. Vielleicht, so hoffte ich, hatten sie ja endlich erkannt, dass wir auf derselben Seite waren.
    Aber da täuschte ich mich.
    Ich verbrachte die nächsten 1432 Nächte im Gefängnis – für ein Verbrechen, das ich nicht begangen hatte.

12
    Abend des 6. November 2007
    E ine der Wärterinnen versuchte, die dicke Sohle meines Wanderstiefels zu biegen. Die andere schüttelte den Kopf: »Nein.«
    Von all den Sachen, die man mir in den ersten paar Minuten seit der Einlieferung ins Gefängnis

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