Zeit, gehört zu werden (German Edition)
sind auch uneins. Wir sind zornig. Wir wollen Gerechtigkeit. Aber wer ist der Schuldige? Wir wollen alle Bescheid wissen, aber wir wissen alle nichts …
Jetzt ist das Heulen von Frauen hinter Gittern zu hören und das Rattern der Medikamentenwägelchen, die über die harten Böden der hallenden Flure rollen.
November 2007
Die meiste Zeit saß ich auf dem Bett herum und fragte mich, was wohl jenseits der hohen, mit Stacheldraht gekrönten Mauern passierte. Womit waren meine Eltern, meine Familie, meine Freunde gerade beschäftigt? Wie verlief die Untersuchung? Wie lange mochte es dauern, die forensischen Indizien zu prüfen, die mich entlasten würden?
Hinter jedem Gedanken bildete sich ein größerer, lauterer, der Schleifen durch mein Hirn zog. Wie hatte ich bei meiner Vernehmung so schwach sein können? Wodurch hatte ich den Zugriff auf die Wahrheit verloren? Warum hatte ich der Polizei nicht die Stirn geboten? Ich hatte nicht nur mich enttäuscht, sondern auch Meredith, Patrick und die Polizei.
Die einzige Abwechslung von der quälenden Langeweile und sadistischen Selbstkritik war der passeggio, die eine Stunde am Tag, in der ich meine Zelle verlassen und mich draußen bewegen konnte. Weil ich immer noch von den anderen Insassen getrennt war und Gufa ihre Hofgangzeiten nicht voll ausschöpfte, merkte ich lange nicht, dass andere Häftlinge zweimal täglich für zwei Stunden ins Freie durften. Selbst wenn sie keine Lust auf Sport hatten, war das eine Gelegenheit zur Kontaktaufnahme, die ich nicht hatte.
Ich wurde anders behandelt als die anderen Insassinnen. Wenn ich meine Gymnastik machte, konnte ich andere Häftlinge durch die vergitterten Glastüren drinnen sehen, die miteinander schwatzten und sich frei bewegten, ohne dass eine Wärterin in Sicht war. Ich hingegen wurde die ganze Zeit beaufsichtigt. Kontakte fanden nicht statt.
Während dieser Stunde bemerkte ich allerdings kleine Kinder, die von einer Nonne durch die Flure geführt wurden. Ihr Anblick entzückte und verblüffte mich. Wer waren sie? Woher kamen sie? Ich dachte, es wären vielleicht Waisenkinder, aber als ich eine Wärterin fragte, erfuhr ich, dass der Frauentrakt des Gefängnisses einen separaten nido hatte, eine Mutter-Kind-Abteilung, wo Frauen mit ihren Kindern lebten, bis sie das Alter von drei Jahren erreichten. Es versteht sich von selbst, dass man Mutter und Kind nicht trennt, aber warum müssen sie im Gefängnis bleiben? Können diese Frauen nicht in Hausarrest oder einer religiösen Einrichtung leben, damit die Kleinen nicht hinter Gittern aufwachsen müssen?
Bei unseren ersten Begegnungen waren die Kinder sehr schüchtern; entweder machten sie sich davon oder standen da und guckten zu, wie ich ihnen zuwinkte – Hände im Mund, ausdruckslos. Ich wusste nicht, wohin die Nonne sie brachte, freute mich aber richtig, dass sie immer vorbeikamen, wenn ich draußen war.
Nach ein paar Tagen hielt die Mini-Parade dann plötzlich an, und die Kinder beobachteten mich durch das Gitter. Ich probierte alles aus, um sie zum Lachen zu bringen – ich tanzte, sang, machte Guck-Guck, und wir jagten uns dies- und jenseits des Fensters, sie drinnen, ich draußen. An manchen Tagen musste die Nonne ihnen zureden, damit sie endlich weitergingen.
Zu meinem passeggio wurde ich in einen kleinen Hof vor der Kapelle geführt; dort drehte ich meine Runden auf einem breiten Weg, der einen nassen runden Flecken Garten mit einer plump gemachten abstrakten Skulptur in der Mitte umgab. Ich konnte nie entscheiden, ob das mattgraue Metallgebilde zwei Flügel darstellen sollte oder überschwappende Wellen, die sich aus dem Boden erhoben und aufeinander zuneigten. Aber eins stand für mich fest: Das Ding war hässlich.
Das Gefängnis war wirklich nicht der geeignete Ort, um Anregungen zu finden. Mit Gymnastik hielt ich mich in Form und verlieh mir innere Wärme. In Schweiß auszubrechen klärte den Kopf und betäubte meine Ängste. Wenn ich mich erschöpft hatte, marschierte ich in den engen, hypnotischen Kreisen, die mir zugänglich waren, entweder singend oder das Mantra wiederholend: Alles wird gut. Halte nur durch. Alles wird gut. Oder ich lief weinend auf und ab, in Gedanken daran, welche Angst ich während meiner Vernehmung gehabt hatte, in Gedanken auch an Bruchstücke aus der Zeit mit Meredith, und versuchte, ihren Tod zu verarbeiten. Es war mir furchtbar, dass ich diese Last auf meine Eltern abgeladen hatte.
Doch ganz gleich, in welcher Stimmung ich
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