Zeit, gehört zu werden (German Edition)
einer von uns ein paar Takte aus irgendeinem Song, um zu testen, ob der andere ihn benennen konnte.
Aber manchmal nahm das, was ich für einen netten Aufklang hielt, eine hässliche Wendung. Zu meinen Vorschriften gehörte es, dass ich mich jeden Abend um acht mit vice commandante Argirò in seinem Büro traf – die letzte Anordnung, bevor um neun die Lichter ausgingen. Ich dachte, er wolle mir helfen und verstehen, was in der questura passiert war, merkte aber schnell, dass ihn das gar nicht interessierte. Wenn ich ihm auf dem Flur begegnete, beugte er sich über mich, bis er kaum eine Handbreit von meinem Gesicht entfernt war, und dann stierte und feixte er mich an. Dabei fielen Bemerkungen wie »Wirklich ein Jammer, dass Sie hier einsitzen, wo Sie doch so ein hübsches Mädchen sind« oder »Passen Sie auf, was Sie essen – Sie haben ganz reizende Kurven, und die wollen Sie sich ja nicht versauen wie andere Leute hier«.
Außerdem kam er gern auf das Thema Sex zu sprechen. Als er mich zum ersten Mal fragte, ob ich gut im Bett sei, meinte ich, mich verhört zu haben. Ich sah ihn ungläubig an.
»Wie bitte?«
Er lächelte nur und entgegnete: »Na kommen Sie, beantworten Sie mir einfach die Frage. Das werden Sie doch noch wissen, oder?«
Jedes Gespräch landete irgendwann beim Thema Sex. So sagte er etwa: »Wie ich höre, stehen Sie auf Sex. Wie haben Sie es denn gern? Welche Stellungen mögen Sie am liebsten? Hätten Sie gern Sex mit mir? Nein? Bin ich Ihnen etwa zu alt?«
Seine schmierigen Kommentare erinnerten mich an die Anmach-Sprüche von italienischen Studenten, wenn ich mich in Perugia auf den Treppenstufen vor dem duomo ausruhte. Ich fragte mich, ob ich seine mangelnde Professionalität einfach kulturellen Unterschieden zuschreiben sollte. Während ich ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaß, dachte ich, es müsse für Italiener wohl akzeptabel sein, zu plänkeln, solange sie im Dienst waren, in Uniform, und mit jemand Untergebenem sprachen – einem Häftling. Er arrangierte sogar Privatbesuche und erschien oft auf der Krankenstation, wenn ich gerade beim Arzt war, aber ich war so behütet aufgewachsen, dass ich sein Benehmen nicht für sexuelle Belästigung hielt – wahrscheinlich, weil er mich nie berührte oder bedrohte.
Als er zum ersten Mal die Rede auf Sex brachte, tat ich so, als würde ich ihn nicht verstehen. »Tut mir leid – Mi dispiace «, sagte ich und schüttelte den Kopf. Doch jeden Abend nach dem Essen spürte ich ein Loch im Magen. Mir blieb keine andere Wahl, als mich mit ihm zu treffen. Nach etwa einer Woche erzählte ich meinen Eltern von Argiròs Benehmen. Mein Vater sagte: »Amanda, das darf er nicht! Das musst du melden!«
Die Einschätzung meines Vaters tat mir als Bestätigung wohl. Doch Argirò stand ganz oben in der Gefängnishierarchie – was konnte ich da schon machen? Wem konnte ich davon erzählen? Wer würde meine Aussage höher bewerten als seine?
Ich übte im Geist Sätze wie: »Solche Gespräche sind mir widerlich.« Aber wenn wir uns persönlich gegenübersaßen, schreckte ich zurück und begnügte mich mit etwas Diplomatischerem – »Ihre Fragen sind mir unangenehm«, sagte ich.
»Wieso?«, wollte er wissen.
Ich dachte: Weil du ein perverser alter Sack bist. Stattdessen sagte ich: »Ich schäme mich nicht für meine Sexualität, aber die ist meine Privatsache, und ich möchte nicht darüber reden.«
Es nützte kein bisschen. Das Treffen an diesem Abend beendete er mit der Bemerkung, meine Haare sähen hübsch aus. Ich hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er versuchte, mich zu umarmen, bevor ich ging. Ich wich zurück.
Dennoch war ich mir nicht sicher, ob ich Luciano und Carlo damit behelligen sollte. Doch als es die nächsten Tage so weiterging, tat ich genau das. Luciano machte eine empörte Miene, und Carlo drängte mich: »Jedes Mal, wenn Argirò Sie allein in sein Büro bittet, sagen Sie ihm, dass Sie nicht mit ihm sprechen möchten. Er könnte über Sex reden wollen, weil Meredith vermutlich einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen ist und er wissen will, was Sie dazu sagen. Das könnte eine Falle sein.«
Aber mein Selbstvertrauen war dermaßen im Keller, dass ich mich nicht einmal traute, Argirò direkt die Stirn zu bieten. Ich rief mir in Erinnerung, dass diese Gespräche ein Klacks waren im Vergleich zu dem Druck, dem ich während meiner Vernehmung ausgesetzt worden war. Argirò lehnte sich zurück und rauchte eine Zigarette, und ich
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