Zeit, gehört zu werden (German Edition)
praktisch ausgeliefert. Woher sollte ich auch wissen, was ich zu erwarten oder wie ich mich zu verhalten hatte? Wie sollten meine Beziehungen zu anderen Häftlingen, zum Aufsichtspersonal sein? Wie offen konnte, oder sollte, ich sein – und wem gegenüber? Wie mir später klarwurde, war ich schlichtweg naiv, wenn mich Wärterinnen, Psychologen und Ärzte über mich ausfragten; ich wusste nicht, ob ich meine Gedanken für mich behalten durfte oder immer genau berichten musste, was mir auf dem Herzen lag.
Ein bisschen Aufklärung über Alltagsfragen hätte mir durchaus gutgetan. Wie sollte ich meine Sachen waschen? Wie mit sonstigen tagtäglichen Anforderungen umgehen? Und bei wem mich überhaupt erkundigen? Ich fand heraus, dass man eine domandina schreiben musste, um einen Termin beim commandante zu bekommen, um irgendetwas zu erwerben, das nicht auf der Lebensmittelliste stand, Kleidung oder Bücher aus dem Lagerraum zu tauschen, sich einen Gefängnisjob zu suchen, die eigenen Siebensachen einer anderen Insassin zu vermachen, die Zelle zu wechseln. Für alles musste man schriftlich eine domandina einreichen – und man musste für alles um Erlaubnis bitten.
Niemand erklärte mir, wie irgendetwas funktionierte, bis ich einen Fehler machte. Als meine Familie mir eine wattierte Skijacke vorbeibrachte, erfuhr ich, dass Futterstoff verboten war, offenbar weil darin Drogen versteckt werden konnten. Auch andere Sachen standen aus diesem Grund auf der Schwarzen Liste. Darunter: Steppdecken, Weichkäse, selbstgebackene Kekse und bestimmte Sorten von Knöpfen. Selbst Muskatnuss war verboten. Anscheinend kann das Gewürz einen high machen, wenn man es in großen Mengen isst oder raucht. Handschuhe waren nur erlaubt, sofern die Finger abgeschnitten waren. Wenn ich Post bekam, brachte eine Wärterin den Umschlag zu meiner Tür und öffnete ihn vor meinen Augen. Immer wurde gleich die Briefmarke herausgerissen – auf die Rückseite konnten Drogen hingeklebt sein –, bevor man mir dann den Brief Blatt für Blatt für Blatt aushändigte. Wollte ich den Umschlag haben, musste er erst auf Gift, Rasierklingen und natürlich Drogen untersucht werden.
Während des ersten Monats fand ich heraus, dass die meisten Wärterinnen emotionalen Abstand zu den Häftlingen hielten. Man wurde zwar von vielen ausgefragt, erfuhr aber von den wenigsten ihren Namen oder sonst etwas über ihr Leben außerhalb des Gefängnisses. Eines Tages, als eine Wärterin namens Rossa mich nach einem Besuch beim Arzt nach oben brachte, fragte ich: »Na, wie geht’s Ihnen heute?«
»Sie sollten aufhören, sich etwas vorzumachen und so zu tun, als wären wir Freundinnen«, blaffte sie. »Ich bin eine agente, und Sie sind eine Insassin. Also müssen Sie sich auch entsprechend benehmen. Nehmen Sie das als guten Rat – ich tue Ihnen nur einen Gefallen damit.«
Ich spürte, wie ich rot wurde, beschämt darüber, wie jemand meine Lage so auf den Punkt gebracht hatte.
Eines der wenigen Dinge, die mich nicht störten, war der Mahlzeitenrhythmus in Capanne – Kaffee, Tee oder Milch um 7.30 Uhr, Mittagessen um 11.45 Uhr, Abendessen um 17.45 Uhr. Die Routine half, die Tage ineinander zerlaufen zu lassen und das Warten schneller herumzubringen.
Aber im Gefängnis dehnte sich die Zeit. Ich war mindestens sechzehn öde Stunden täglich wach – ohne viele Möglichkeiten, sie auszufüllen. Meine Klaustrophobie bekämpfte ich mit Lesen, Schreiben und Sit-ups. Lupa hatte den Gefängnisbücherschrank durchstöbert, um mir Harry Potter und der Feuerkelch auf Italienisch zu bringen, dazu eine italienische Grammatik und ein Wörterbuch. Trotz allem wollte ich immer noch Italienisch lernen und verbrachte Stunden damit, Definitionen nachzuschlagen und jeden Satz grammatikalisch zu zerlegen. Alles, was mir das Gefühl gab, ein Ziel vor Augen zu haben, verschaffte mir emotionale Erleichterung, und jeder Silberstreifen am Horizont war während meiner Haft psychologisch wichtig. Später ging es beim Italienischlernen eher um Selbstverteidigung und Überleben. Ich musste die Sprache halbwegs beherrschen, wenn ich kommunizieren und mich irgendwann rechtfertigen wollte.
Schon früh begann ich, ein Tagebuch zu führen, das ich Il mio diario del prigione betitelte – Mein Gefängnistagebuch:
Meine Freundin ist ermordet worden. Meine Freundin, meine Mitbewohnerin. Sie war schön, klug, lustig und lieb, und sie ist ermordet worden. Alle, die ich kenne, trauern heftig um sie, aber wir
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