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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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war: Immer wieder bückte ich mich, um einen Regenwurm aufzuheben, der beim letzten Regenschauer aufs Pflaster geschwemmt worden war, und ihn behutsam zurück auf die Erde zu legen.
    Der Mensch im Gefängnis, der sich am ehesten um meine Seelsorge kümmerte, war Don Saulo Scarabattoli, der katholische Geistliche für den Frauentrakt von Capanne. Er erschien ein paar Tage nach meiner Einweisung an der Zellentür, stellte sich vor und fragte: »Hätten Sie Lust, auf ein paar Worte in mein Büro zu kommen?« Dabei lächelte er und ergriff meine Hände durch das Gitter.
    »Ich bin nicht religiös«, erwiderte ich. »Ich hätte echt nicht viel zu sagen.«
    »Kein Problem. Sie sind immer willkommen.«
    Don Saulo, ein kleiner Mann mit einem grauen Haarkranz, war Anfang siebzig. Seine Drahtgestellbrille und die weißen Stoppeln auf seinem Kinn verliehen ihm eine gütige Erscheinung. Aber mich schreckte das kleine Kreuz ab, das auf seinem marineblauen Pullover steckte, und das Medaillon der Jungfrau Maria um seinen Hals. Ich hatte nicht die Absicht, mich bekehren zu lassen.
    Ich bin nie getauft worden. Ich bin nie zur Sonntagsschule gegangen, habe nie ein Tischgebet und nie ein Nachtgebet gesprochen. Ich hatte eine Klischeevorstellung von Religion als einer rückwärts gewandten Anschauung, die falschen Trost bot und die Menschen davon abhielt, zu ihren eigenen Überzeugungen zu gelangen. Schon gleich zu Beginn des ersten Jahres an der jesuitischen Highschool fand ich heraus, dass ich die heilige Messe ohne Folgen schwänzen konnte, indem ich freitags einfach zu spät erschien, woraufhin ich meinen vorgeschriebenen Religionsunterricht radikal zusammenstrich. Einmal, als wir eine Arbeit darüber schreiben mussten, wie unser Glaube an Gott unser Leben beeinflusst hat, gab ich knappe zwei Zeilen ab: Mein Leben sei nicht betroffen, weil ich nicht an Gott glaubte. Mein Ton machte offensichtlich, dass ich das Thema für albern hielt, und trug mir meine einzige mittelmäßige Note in der Highschool ein, was mich umso mehr empörte. Was maßte sich mein Lehrer an, mich nach meinem persönlichen Glauben zu bewerten?
    Ich nahm an, dass Menschen, die ihr Leben der Religion widmeten, darin geschult wurden, freundlich zu sein – dass das Teil ihres professionellen Verhaltenskodex war und nicht unbedingt echt. Daher reagierte ich ziemlich vorsichtig auf Don Saulo, selbst nachdem er gesagt hatte, das Priesteramt verpflichte ihn, für sich zu behalten, was auch immer ich ihm anvertraute. Aber mein Vertrauen hielt sich in Grenzen. Meine Anwälte hatten mich wissen lassen, dass, wer auch immer mir Fragen stellte, vermutlich ein Polizeiinformant war.
    Allerdings wurde mir schnell klar, dass Don Saulos Anständigkeit und Mitgefühl echt waren. Das belastete natürlich unsere ersten Gespräche. Denn jedes Mal fragte ich ihn: »Glauben Sie, dass ich unschuldig bin?«
    »Ich glaube, dass Sie aufrichtig sind«, antwortete er mir jedes Mal, während ihm und mir Tränen über die Wangen liefen.
    Aufrichtig ist nicht dasselbe wie unschuldig. Aber bald darauf brauchte ich diese Bestätigung von ihm nicht mehr. Ich merkte, dass er klug und fürsorglich war, interessiert an mir als einem anderen menschlichen Wesen. Er drängte mich nicht, ihm über meinen Fall zu erzählen oder überhaupt etwas zu sagen.
    Natürlich bot mir Don Saulo viele Möglichkeiten, mich der katholischen Kirche anzunähern, und bei jeder unserer Begegnungen kam die Sprache auf Gott. Obwohl ich immer noch nicht an ein allmächtiges Wesen glaubte oder irgendeinen Glauben als unbestreitbare Wahrheit verehrte, entfernte ich mich langsam von meiner rebellischen Haltung, die ich zu Highschool-Zeiten eingenommen hatte. Statt zu denken, jeder Glaube behindere Individualität, begann ich Religion als die kollektive Weisheit zahlloser Generationen zu betrachten und sie als eine Form zu respektieren, die es erlaubt, grundsätzliche Fragen zu untersuchen. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Was macht ein gutes Leben aus? Warum existieren wir? Religion war Don Saulos Sprache und zeigte mir einen Weg, mit ihm über meine Gefühle, Unsicherheiten und Ideen zu sprechen.
    Eigentlich hatte ich meinen Fall mit niemandem außer meinen Eltern und meinen Anwälten diskutieren wollen. Aber dann vertraute ich Don Saulo an, wie schuldig ich mich fühlte, weil ich bei meiner Vernehmung Patrick genannt hatte, weil ich so verwirrt darüber gewesen war, was mit mir passierte. »Wenn Sie bewusst niemandem

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