Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Unrecht getan haben, Amanda«, sagte er, »dann haben Sie auch nicht gesündigt.«
Und Don Saulo passte auf mich auf. Jeden Donnerstag führte er unter dem Schirm von »Resozialisierungsmaßnahmen« im Frauentrakt einen Spielfilm vor. Zu meinem Erstaunen überzeugte er die entsprechenden Beamten, mich an diesen Veranstaltungen teilnehmen zu lassen. Unser Kino war ein großer Raum, leer, abgesehen von Plastikstühlen in Reihen, einem Klavier, das wir nicht anfassen durften, und einer ausziehbaren Leinwand.
Spielfilme brachten Don Saulos gefühlvolle Seite zum Vorschein. Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur einmal die Lichter wieder angegangen wären, ohne dass seine Wangen nass waren und seine Stimme zitterte, ob wir nun gerade Die Passion Christi, Bruce Allmächtig oder Küss den Frosch gesehen hatten.
Und so leicht, wie er weinte, brach er auch in Lachen aus. Eines Tages, als wir uns in seinem Büro unterhielten, rutschte ich auf meinem harten Stuhl hin und her. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Mir tut mein culo weh«, antwortete ich.
Er gluckste. »Sie meinen, Ihnen tut der sedere weh«, korrigierte er mich schmunzelnd.
»Culo« – »Arsch« – war ein Wort, das ich von Gufa aufgeschnappt hatte. Niemand hätte einen so vulgären Ausdruck vor einem Priester gebraucht, es sei denn, um ihn zu beleidigen. Ich genierte mich schrecklich, aber Don Saulo fand das Missverständnis amüsant.
Meine Besuche bei ihm waren freiwillig. Ich sah Don Saulo ein paarmal pro Woche für jeweils eine halbe Stunde, weil er von allen Menschen, die ich in Capanne kannte, der einzige war, der sich gern über Ideen austauschte. Die meisten Gespräche, die ich führte, waren mit Leuten, die ich nicht mochte – meine Zellengenossin, einige Ärzte, vice commandante Argirò, die Polizisten, die nach Capanne kamen, um immer mehr von meinen Sachen zu beschlagnahmen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit ihnen zu reden. Dass ich nicht die Wahl hatte, wohin ich ging und mit wem ich mich traf, machte mich nervös. Es schien mir, als versuchten alle möglichen Leute, sich einen Weg in meinen Kopf zu erschleichen. Selbst die Briefe, die ich schrieb, mussten der Wärterin in einem unverschlossenen Umschlag ausgehändigt werden – damit sie für die Polizei fotokopiert werden konnten, wie ich später herausfand. Ich hatte das Gefühl, mich vor einer Invasion schützen zu müssen.
Jeden Morgen, wenn sich die anderen Häftlinge draußen zum passeggio aufreihten, begleitete mich eine Wärterin zum ersten meiner täglich zwei vorgeschriebenen Arztbesuche. Alle Häftlinge stehen unter einer Art Beobachtung, aber irgendjemand – wahrscheinlich der Staatsanwalt – hatte angeordnet, dass die Ärzte mich während meines ersten halben Jahres in Capanne regelmäßig befragten, in der Hoffnung, ich würde etwas Belastendes sagen.
Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, einen Stimmungsaufheller oder auch nur Tabletten als Einschlafhilfe einzunehmen, doch fast jeder Arzt empfahl mir Antidepressiva und Beruhigungsmittel. Die Psychiaterin schien besonders entschlossen, mich zu einer medikamentösen Behandlung zu bewegen. Aber ich antwortete jedes Mal mit einem energischen »Nein!«. Ich war nicht bereit, dem Gefängnis noch mehr Kontrolle über mich zu geben, als es ohnehin bereits hatte.
Im Gefängnis gab es kein Arzt-Patient-Vertrauensverhältnis. Ohnehin war immer eine Wärterin anwesend, die direkt hinter mir stand. Das nervte mich so sehr, dass ich im Lauf der Zeit eine notwendige gynäkologische Untersuchung ausfallen ließ und auch keine Hilfe suchte, als ich Nesselausschlag bekam oder mir die Haare ausfielen. Was auch immer auf der Krankenstation passierte, floss als Klatsch und Tratsch von einer Stelle zur nächsten und schwappte manchmal bis zu mir zurück.
Wie so ein Besuch verlief, hing vom Arzt ab, und ich war dankbar für jede Geste, die nicht aggressiv oder verächtlich war. Eine Ärztin unterhielt sich gern mit mir über ihre Probleme mit Männern. Und eines Tages fragte mich ein älterer Arzt während der Untersuchung: »Was ist eigentlich Ihr Lieblingstier?«
»Der Löwe«, sagte ich. »Wie in Der König der Löwen – Il Re Leone .«
Bei meinem nächsten Besuch überreichte er mir das Foto eines Löwen, das er aus einem Kalender mit Tierbildern herausgerissen hatte. Im Gegenzug malte ich ihm ein buntes Bild, das er an die Wand der Krankenstube heftete. Als er später herausfand, dass ich die Beatles mochte, summte gern
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