Zeit, gehört zu werden (German Edition)
verrückt. Irgendwann schafften Carlo und Luciano es, acht colloqui pro Monat herauszuschlagen, manchmal sogar neun, indem sie sich der Gefängnisverwaltung gegenüber darauf beriefen, dass meine Familie von so weit her angereist war, um mich zu sehen. Doch selbst mit den zusätzlichen Stunden ergab das Maß an Zeit, das ich imstande war mit den Menschen zu verbringen, die ich liebte, nur einen Bruchteil der Tausende von Stunden, die ich gefangen war – eingesperrt zwischen Fremden.
Was meine Familie für mich zu tun vermochte, obwohl sie fast sechstausend Meilen entfernt lebte, war unglaublich. Ich bin sicher, dass ich mehr Unterstützung bekam als die meisten anderen Insassen, einschließlich derer, die in der Nähe von Capanne groß geworden waren. Fast immer war jemand für mich da – meine Mutter, mein Vater oder Chris –, es sei denn, sie hatten mit Tanten, Onkeln oder Freunden vereinbart, für sie einzuspringen.
Für niemanden von meiner Familie hatten diese Reisen etwas Erfreuliches. Sie mieteten eine winzige Wohnung auf dem Lande, etwa fünfzehn Kilometer von Capanne entfernt, ließen ihre Ehepartner und meine Schwestern zurück, legten ihr Leben auf Eis und wechselten sich darin ab, jeweils mehrere Wochen am Stück in Italien zu sein. Sie beherrschten nicht die Sprache und kannten auch niemanden in der Gegend. Sie kamen aus einem einzigen Grund nach Perugia – um mich zweimal die Woche für eine Stunde zu sehen. Ohne sie wäre ich vermutlich komplett zusammengebrochen. Ich wäre nicht imstande gewesen, meine Haft zu überstehen.
Bevor meine Eltern bei diesem ersten gemeinsamen Besuch zusammen fortgingen, ergriff meine Mutter noch einmal meine Hände, beugte sich zu mir vor und sagte eindringlich, mit schon wieder nassen Augen: »Amanda, ich würde sonst was dafür tun, um den Platz mit dir zu tauschen. Deine Aufgabe ist es jetzt, auf dich aufzupassen. Ich mach mir Sorgen, solange du hier bist.«
Ihre Worte unterstrichen, was wir alle wussten: Obwohl meine Eltern hinter mir standen, konnten sie sich nicht tagtäglich um mich kümmern. Ich musste das Gefängnis allein meistern. Für andere Häftlinge lag der Schlüssel zum Durchkommen darin, dass sie jemanden fanden, mit dem sie sich zusammentun konnten, weil einen diese Person beschützen und begleiten würde. Aber es fand sich niemand wie ich, niemand, dem ich mich anvertrauen konnte, niemand, dem ich trauen konnte, mich unter seine Fittiche zu nehmen.
16
9.–14. November 2007
D er schönste Teil meines Tages waren die paar Sekunden zwischen Aufwachen und Einsetzen der Erinnerung. In diesem Moment, noch mit geschlossenen Augen, war ich wieder in meinem gemütlichen zitronengelben Zimmer bei meiner Mutter in Seattle – und glücklich.
Aber dann kam alles zurück. Ich war eingesperrt in eine kalte Zelle, wo die Heizkörper nur ein paar Stunden täglich eingeschaltet wurden. An einem Ort namens Capanne, bei dem ich mir nicht mal ganz sicher war, wo er lag – irgendwo, so viel wusste ich, zwischen Perugia und Rom . Und gleich darauf überkam mich die Panik.
Beim Aufstehen blickte ich durch das Gitterfenster hinaus und beneidete die Kaninchen, die über die leeren, nassen Felder hoppelten.
Wie kann es sein, dass ich im Gefängnis bin? Wie kann es sein, dass ich einer so schrecklichen Tat beschuldigt werde? Das Ganze kommt mir vor wie eine verdrehte Laune des Schicksals. Und doch bin ich hier.
An manchen Tagen hatte ich das Gefühl, total in der Luft zu hängen, weil ich keinen Kontakt zur wirklichen Welt herstellen konnte. Ohne meine Eltern wäre ich ankerlos dahingetrieben, und ich bemaß die Zeit nach ihren Besuchen. Noch zwei Tage, bis sie hier sind. Noch vier Tage, bevor sie wiederkommen können.
Trotz allem, was geschehen war, glaubte ich daran, die Polizei, der Staatsanwalt, eine Richterin – irgendwelche Verantwortlichen – würden die Tatsachen eingehend prüfen und feststellen, dass sie sich geirrt hatten. Würden aufgerüttelt von dem doch Offensichtlichen sein – dass ich unfähig war, einen Mord zu begehen. Ganz bestimmt würde jemand erkennen, dass es keinerlei Beweise dafür gab. Allein mein Glaube daran, dass ich nur vorübergehend im Knast saß, hielt mich davon ab, total durchzudrehen. Ich denke, dieser Glaube an eine letztendliche Gerechtigkeit ist das, was Psychologen einen Bewältigungsmechanismus nennen.
In den ersten Tagen nach Merediths Tod hatte ich darauf bestanden, in Perugia zu bleiben. Zu der Zeit hätte die
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