Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Heimreise eine Niederlage bedeutet. Doch seit der Festnahme gingen meine Wünsche in die Gegenrichtung. Jetzt sehnte ich nur noch mein Leben in Seattle herbei. Ich überlegte mir schon genau, was ich tun würde, sobald dieser Albtraum vorbei war – wie ich mich wieder aufbauen würde, ob ich bei meiner Mutter wohnen oder mir etwas Eigenes suchen sollte, ob ich zurück an die Uni gehen oder mir einen Job besorgen sollte, wer von den Menschen, die ich liebte, welchen Stellenwert in meinem neuen Leben bekäme.
Ich war nämlich fest entschlossen, mich nicht in Capanne einzugewöhnen. Aus meiner Sicht hätte das einen Sieg für die Leute bedeutet, die mich als schuldig ansahen. Ich schwor mir, keine Spur meiner Anwesenheit zu hinterlassen und nur das hinauszutragen, was ich hineingetragen hatte – eine Lektion, die meine Familie mich gelehrt hatte, wenn wir zelten gingen. In meiner Vorstellung war ich tatsächlich beim Zelten, und meine Haft war nicht von längerer Dauer als eine Woche in den Bergen.
Meine einzigen Besitztümer waren die unpersönlichen Vorräte aus dem Müllbeutel, der mir am ersten Abend gegeben worden war, und ein paar nützliche Sachen aus dem Schrank der Nonnen – Bettlaken und ein steifes Badetuch. Ich war entschlossen, damit auszukommen. Die Vorstellung, mich auf ein Dasein in Capanne einzustellen, fand ich entsetzlich.
Meine Mutter flehte mich an, ihr zu sagen, was ich brauchte, was ich wollte. »Dass ich hier wegkann«, erwiderte ich. Aber im Wissen, dass ich das eben nicht konnte, bat ich um Nachschub an Unterwäsche und um ein paar T-Shirts.
Eine Wärterin gab mir einen Bestellschein für Nahrungsmittel und andere Artikel des täglichen Bedarfs – von Salz bis Nähnadeln – und ein libretto, ein 22 × 28 cm großes Blatt Papier, einmal umgeschlagen, mit einer handschriftlich auszufüllenden Doppelseite, auf der ich meine Ausgaben verfolgen konnte. Ich besaß 200 Euro auf meinem Gefängniskonto – den Betrag aus dem Geldbeutel, der bei meiner Ankunft beschlagnahmt worden war. In diesem libretto gab es einen Bestellschein mit drei Spalten: für die Bezeichnung des Artikels, die Codenummer und die gewünschte Anzahl. Gufa versuchte mich zu beschwatzen, einen Campingkocher und eine Kaffeemaschine zu kaufen, zwei der teuersten Artikel im libretto, aber ich weigerte mich, auch nur eine Tüte Milch zu bestellen. Ich wollte längst fort sein, bevor das Haltbarkeitsdatum abgelaufen war.
Mich aus dem Gefängnis zu holen war der dringlichste Punkt, wenn ich mit Carlo und Luciano sprach. Sobald der Medienwirbel in ein paar Wochen abgeflaut wäre, wovon sie ausgingen, würde mir ein Richter ihrer Meinung nach wahrscheinlich Hausarrest auferlegen, entweder bei meiner Familie oder in einer religiösen Einrichtung. Und sobald die Staatsanwaltschaft erkannte, dass sie keine Beweise gegen mich hatte, würde man mich gehen lassen.
Doch während die Tage dahinkrochen, verhandelte ich meine Abmachung mit mir aufs Neue. Amanda, du wirst ein paar Sachen brauchen. Einkaufen heißt noch lange nicht dableiben.
Ich füllte die Spalten für eine Zahnbürste, Zahnpasta und eine Haarbürste aus.
Wenige Tage später brachte mir eine kleine, schlanke junge Frau, die wie ein Mädchen gekleidet war – Jeans, Sweatshirt und Miss-Piggy-Turnschuhe – meine Bestellung, sie schob sie durch den Schlitz für die Essensausgabe. Aber bei einem Artikel runzelte ich die Stirn. »Nein, nein«, sagte ich, als ich erkannte, was das war. »Ich wollte etwas für meine Haare.«
»Aha«, sagte sie, lachte gutmütig und zeigte der Wärterin meinen Fehler. Ich fühlte mich gedemütigt, wie immer, wenn mich meine Unwissenheit bloßstellte. Ich hatte einen Rasierpinsel bestellt – eine spazzola per la barba – statt einer spazzola per i capelli .
»Kein Problem, ich sehe zu, dass ich den umtauschen kann«, bot sie mir an.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Sie sind echt nett zu uns Knastis.«
Jetzt lachte sie herzhaft, womit sie Lupas Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Fanta ist auch eine Insassin«, erklärte mir Lupa. »Alle Arbeiterinnen, die Sie hier sehen, sind Häftlinge.«
Aber nicht nur die Sprache brachte mich aus der Fassung. Fast jeder Aspekt des Lebens in Capanne war exotisch. Der Müllbeutel hatte keinen Knast-Führer enthalten. Gufa verpasste mir schnell den Spitznamen bimba – kleines Mädchen. Sie nannte mich so zum Spaß, unterstrich damit aber gleichzeitig meine Ahnungslosigkeit.
Ich war meinen Wärterinnen
Weitere Kostenlose Bücher