Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Piercings in beiden Ohren, und ich nahm jeden Morgen alle elf Ohrringe heraus, damit ich mir die Ohren abwischen konnte, während das Duschwasser warm wurde. Als mir die Blutstropfen im Waschbecken auffielen, dachte ich, sie stammten von meinen Ohren, wie schon einmal, bis ich am Porzellan kratzte und feststellte, dass das Blut trocken war. Dadurch muss es dann an den Wasserhahn geraten sein.
Meredith war erst seit drei Wochen tot. Ich hatte den Verlust meiner Freundin noch immer nicht ganz verarbeiten können. Ich brauchte Zeit, damit ich um sie trauern konnte, wollte ihren Eltern sagen, wie wunderbar sie gewesen war und wie traurig mich ihr unbegreiflicher Tod stimmte. Dass die Medien unsere Beziehung nach ihrem Gusto umdeuteten, machte mich wütend. Ich war ein Ungeheuer. Meredith war eine Heilige. In Wahrheit waren wir uns ziemlich ähnlich. Sie war verschlossener als ich, aber wir waren beide junge Mädchen, die ernsthaft studierten und ihre Sache gut machen wollten, die Freundschaften schließen wollten und ein paarmal Gelegenheitssex hatten.
Raffaele verteufelte mich nicht, doch er sagte sich öffentlich von mir los. Über seinen Anwalt, der an ihn gerichtete Fragen beantwortete, ließ er einem Journalisten ausrichten: »Wenn ich hier bin, ist es vor allem ihre Schuld. Ich bin mir bewusst, dass unsere Wege, anders, als ich dachte, grundlegend auseinandergegangen sind.«
Als er gefragt wurde, was er mir gern sagen würde, lautete seine Antwort: »Nichts. Ich habe ihr absolut nichts zu sagen.«
Ich wusste nicht, was ich von Raffaele halten sollte. Dass er mein Alibi zerstört hatte, verwirrte und erzürnte mich gleichermaßen. Seine Behauptung, ich hätte ihn zur Lüge angestiftet, war unentschuldbar und schmerzhaft. Und jetzt das, dachte ich. Hatte ich ihn falsch eingeschätzt? Das glaubte ich nicht, konnte mir sein Verhalten jedoch absolut nicht erklären. Gerade hatten wir uns noch sehr nahgestanden, und im nächsten Augenblick gab er bekannt, er habe mich fallenlassen. Kam das von ihm? Von seinen Anwälten? Von Journalisten? Mir kam der Gedanke, dass ich wohl nicht das brave italienische Mädchen war, das er brauchte. Ich versuchte, nachsichtig zu sein. Wenn Raffaele nicht mehr mit mir reden will, verstehe ich das. Die Sache war für alle traumatisch. Aber manchmal war ich einfach nur wütend.
Ich leckte gerade diese Wunden, als mir derart niederschmetternde Neuigkeiten zu Ohren kamen, dass sie beinahe alles andere auslöschten. Bei meinem allabendlichen Termin in der Krankenstation traf ich auf einen Arzt, den ich noch nie gesehen hatte. Er trug einen weißen Arztkittel, hielt meine Krankenakte in der Hand und sagte: »Wir haben die Ergebnisse Ihres Bluttests.« Sein Umgang mit Patienten war warm wie Eiscreme. »Der HIV-Test fiel positiv aus.«
Ich war so schockiert, dass ich nicht denken konnte. Ich ertrank, schlug wild um mich, um an die Oberfläche zu kommen und die Tragweite seiner Worte zu erfassen. Der Arzt bemerkte meine Panik. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er, ansatzweise mitfühlend. »Es könnte auch ein Irrtum sein. Wir müssen noch weitere Tests durchführen.«
Seine Beschwichtigung kam mir hohl vor, als wollte er mein unvermeidliches Leid nur hinausschieben. Mir war, als würde mir vor Angst der Schädel platzen. Ich war wegen eines Verbrechens im Gefängnis, das ich nicht begangen hatte, und jetzt sollte ich auch noch mit HIV infiziert sein?
Argirò stand direkt hinter mir, als ich die Nachricht erhielt. »Vielleicht hätten Sie sich das überlegen sollen, bevor Sie mit unzähligen Männern geschlafen haben«, spottete er.
Ich fuhr zu ihm herum. »Ich habe mit niemandem geschlafen, der Aids hat«, fauchte ich, obwohl es möglich war, dass einer der Männer, mit denen ich mich eingelassen hatte, sogar Raffaele, HIV-positiv war.
»Sie sollten darüber nachdenken, mit wem Sie geschlafen und bei wem Sie es sich eingefangen haben.«
Vielleicht versuchte er, mich zu trösten oder einen Scherz zu machen, vielleicht sah er aber auch eine günstige Gelegenheit, die er zu seinem Vorteil nutzen konnte. Was auch immer der Beweggrund gewesen sein mochte, als wir wieder zu meiner Zelle hinaufgingen, sagte Argirò: »Keine Bange, ich würde auch jetzt noch mit Ihnen ins Bett gehen. Versprechen Sie mir, dass Sie mit mir schlafen.«
Ich war zu aufgelöst, um zu reagieren.
Auf meinem Bett sitzend, fragte ich mich, ob ich wohl im Gefängnis sterben würde. Damals wusste ich nicht, dass
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