Zeit, gehört zu werden (German Edition)
hörte, und stammte ursprünglich von der Elfenbeinküste. Er kam als kleines Kind nach Italien und wurde von einer reichen Familie aus Perugia aufgenommen, die ihn wie einen Sohn behandelte. Er war ein begabter Basketballspieler, der sich auf dem Spielfeld viele Freunde gemacht hatte. Doch mit der Zeit faulenzte er lieber, statt zu arbeiten, und seine Ersatzfamilie verleugnete ihn. Im Herbst 2007, bevor Meredith und ich ihn kennenlernten, hatte er seinen Job verloren. Guede war beim Einbruch in Büros und Privathäuser erwischt worden, wo er elektronische Geräte und Bargeld gestohlen hatte.
In einem weiteren Bericht hieß es, er habe Mitte Oktober einen großen Stein durch das Fenster einer Anwaltskanzlei geworfen, um hineinzugelangen. Ein zerbrochenes Fenster und ein Stein auf dem Boden? Genau das, was wir in Filomenas Zimmer vorgefunden hatten . Er hatte einen Laptop und ein Handy aus der Firma mitgehen lassen.
Kaum zu glauben, dass niemand von uns gemerkt hatte, wie zwielichtig er war. Nur ein paar Tage bevor Meredith umgebracht wurde, ertappte die Leiterin eines Mailänder Kindergartens eines Morgens Rudy, wie er aus ihrem Büro kam. Als die Polizei eintraf, fanden sie ein Küchenmesser aus dem Kindergarten in seinem Rucksack, mitsamt dem Laptop aus der Anwaltskanzlei, einem Satz Schlüssel, einer goldenen Damenarmbanduhr und einem kleinen Hammer, den er zum Einschlagen von Scheiben verwendete. Die Polizei stand kurz davor, ihn für dieses Vergehen zu inhaftieren, doch man ließ ihn ohne Nennung von Gründen wieder frei. Ich konnte nicht fassen, wieso sie Guede hatten davonkommen lassen. Mein einziger Gedanke war: Hätte man ihn hinter Gitter gebracht, wäre Meredith noch am Leben. Für mich ergab es keinen Sinn, dass sie ihn hatten laufen lassen, mich aber nicht schnell genug festnehmen konnten.
Ich war Rudy Guede begegnet, kannte ihn jedoch nicht. Ich wusste nicht, ob er eines Mordes fähig war, und konnte mir nicht vorstellen, warum er etwas derart Brutales tun sollte. Aber ich glaubte, dass er schuldig und das Beweismaterial eindeutig war. Luciano und Carlo sagten mir, man habe am Tatort keine Spuren eines anderen gefunden. Endlich konnte die Polizei aufhören, mich als Sündenbock für einen Phantomkiller zu benutzen, den niemand zu benennen vermochte – ein Phantom, dessen Stelle ich ausgefüllt hatte.
Fast drei Wochen lang hatte mir niemand einfallen wollen, auch nicht aus dem weiteren Umfeld, der Meredith erstochen haben könnte. Jetzt gab es ein Gesicht und einen Namen. So schrecklich es auch war, aber mir fiel ein Stein vom Herzen.
Dass Guede benannt wurde, erstaunte mich, denn ich hatte ihn zweimal unter ganz normalen Umständen getroffen. An ihm war nichts Besonderes. Er schien austauschbar mit fast allen Typen, die ich in Perugia kennengelernt hatte – selbstsicher, beinahe schon arrogant. Nicht bedrohlich. Nicht wie ein heruntergekommener Dieb. Nicht einmal eigenartig.
Am nächsten Tag brachte derselbe Polizist, der sich über meine Reaktion auf den angeblichen Fund von DNA-Beweisen am Messer lustig gemacht hatte, Dokumente nach Capanne, die ich unterschreiben sollte. Das passierte während der Ermittlungsphase regelmäßig – sie mussten mich benachrichtigen, sobald sie etwas aus der Villa konfiszierten, forensisches Beweismaterial analysierten, das mich betraf, oder wenn sie mir – unglaublich! – Kosten für die Ermittlungen in Rechnung stellten. Ich gewöhnte mich an die Bürokratie. Doch auf die Grausamkeit des Polizisten war ich nicht gefasst. Er redete so schnell, dass ich nur ein Wort auffing: »Rudy«.
»Rudy?«, fragte ich und wiederholte den Namen, um sicherzugehen, dass ich richtig gehört hatte. »Sie meinen den Typen, den die Polizei ›die vierte Person‹ nennt?«
»Ja, Rudy. Kennen Sie ihn?«
»Flüchtig«, antwortete ich schulterzuckend.
»Ach ja, flüchtig? Wir werden sehen, was er dazu sagt«, erwiderte der Polizist.
Ich reagierte nicht darauf, bemühte mich jedoch, selbstsicher aufzutreten, damit er nicht glaubte, mich einschüchtern zu können. Ich dachte: Guede wird nichts über mich zu sagen haben. Er kennt mich nicht .
Am 20. November wurde Guede in Deutschland verhaftet, wohin er am 3. November geflohen war – an dem Tag, nachdem Merediths Leiche entdeckt worden war. Er fuhr ohne Fahrschein mit dem Zug, als man ihn aufgriff und unter Mordverdacht festnahm.
Innerhalb weniger Stunden erfuhr ich, dass er vor seiner Verhaftung einem Freund via Skype –
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