Zeit, gehört zu werden (German Edition)
HIV-Kranke dank verbesserter Behandlungsmethoden noch lange leben können. Ich dachte, Aids sei unheilbar. Bitte, bitte mach, dass es ein Irrtum ist. Dass es falsch ist. Ich will nicht sterben. Ich möchte heiraten und Kinder haben. Ich möchte alt werden können. Ich will Zeit zum Leben haben.
Ich wusste nicht, wie ich es meinen Eltern beibringen sollte, aber ich wollte unbedingt mit ihnen sprechen, und sie würden mich erst in zwei Tagen wieder besuchen kommen. Ich hatte ein so glückliches Leben gehabt, dachte ich betrübt, dass mein ganzes Unglück mich jetzt einholte.
Mir war bewusst, dass es Folgen haben konnte, wenn man ungeschützt mit jemandem schlief. Ich dachte, ich wäre vorsichtig genug gewesen. Aber was hatte ich wirklich über meine Sexualpartner gewusst? Warum hatte ich das Risiko nicht ernsthaft überdacht? Warum setzte ich mein Leben nicht höher an als das flüchtige Vergnügen? Ich saß im Gefängnis fest, und jetzt fühlte ich mich in meinem eigenen Körper gefangen; ich meinte, meiner eigenen Dummheit aufgesessen und in die Falle gelaufen zu sein. Ich dachte an das Leben, das ich vielleicht gehabt hätte, statt des Lebens, das ich nun führte, und begriff zum ersten Mal, warum Menschen sich in ihrer Trauer die Kleider zerfetzen oder büschelweise Haare ausreißen. Ich wollte alles ungeschehen machen – wollte heraus aus meinem Körper, aus diesem Gefängnis, aus diesem Leben, das über mir zusammengebrochen war. Ich verbarg mein Gesicht im Kissen, damit niemand mich hören konnte, und heulte.
So vieles war geschehen, womit ich weder emotional noch praktisch zurechtkam: Merediths Tod, meine Vernehmung, Festnahme, Inhaftierung, HIV. Jedes für sich genommen wäre bereits eine schwere Bürde für eine Zwanzigjährige gewesen. Alles zusammen war vernichtend. Jedes Problem, vor das ich gestellt wurde, war mir fremd, und die Mittel, die ich zur Verfügung hatte – Sturheit, Optimismus, die Unterstützung meiner Familie und die Gewissheit, dass ich unschuldig war –, reichten kaum aus für die Situation.
Im Grunde konnte ich nicht so recht glauben, dass ich wirklich Aids hatte. Auch wenn ich in den Medien als Hure dargestellt wurde, wusste ich, dass ich keine war. Mir erschien es zu ironisch, zu überwältigend, dass all das auf einmal eintrat. Atme einfach tief durch. Schreib auf, dass du durchdrehst, und dann hör auf. Wenn du dich verrückt machen lässt, wird nichts besser. Entspann dich. Der Arzt hat gesagt, dass sie nicht mit Sicherheit wissen, ob du es hast.
Ich holte mein Tagebuch hervor, um darüber nachzudenken, wer mich infiziert haben könnte. Im Geist ging ich meine sexuellen Erfahrungen noch einmal durch, um festzustellen, wo ich einen Fehler gemacht haben könnte. Ich fragte mich, ob ein Kondom gerissen war, und falls ja, bei wem. Und wenn es so war, wusste er es?
Ich hatte mit sieben Jungs geschlafen – vier in Seattle und drei in Italien. Ich versuchte logisch vorzugehen, schrieb die Namen derjenigen auf, mit denen ich Sex gehabt hatte, und wie wir uns geschützt hatten.
Danach ging es mir ein wenig besser. Ich musste raus aus dem Gefängnis und mich von jemandem untersuchen lassen, dem ich vertraute, bevor ich dachte und handelte, als wäre mein Leben vorbei. Ich zwang mich, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.
An dem Samstag erzählte ich meinen Eltern, was der Arzt gesagt hatte. Meine Mutter brach sofort in Tränen aus.
»Aber ich habe keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Ich bin mir sicher, dass alles in Ordnung ist.«
Mein Vater war skeptisch.
»Meinst du denn, sie sagen dir die Wahrheit?«
Auf die Möglichkeit, dass man mich getäuscht haben könnte, war ich noch nicht gekommen. Doch Luciano und Carlo schlossen sich den Zweifeln meines Vaters an, als ich es ihnen mitteilte.
»Es könnte ein Trick der Staatsanwaltschaft sein, um Sie noch mehr zu ängstigen, damit Sie emotional verwundbarer sind und sie daraus ihren Nutzen ziehen können«, sagte Carlo. »Sie müssen auf der Hut sein, Amanda, und lassen Sie sich von niemandem zu einer Aussage zwingen.«
Letztendlich weiß ich nicht, ob sie die HIV-Geschichte erfunden haben. Nicht der Arzt sagte, ich solle mir überlegen, mit wem ich geschlafen habe, sondern Argirò. Kann sein, dass der Test fehlerhaft gewesen ist oder dass Argirò das medizinische Personal dazu verleitet hatte, damit er mir Fragen stellen und die Antworten an die Polizei weiterleiten konnte.
Fast
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