Zeit, gehört zu werden (German Edition)
auszuschalten half, aber es war unmöglich, die gesamte Berichterstattung zu verdrängen – in jeder Zelle hing einer an der Wand –, und der Apparat und ich waren dreiundzwanzig Stunden am Tag im selben Raum eingeschlossen. Pausenlos sprang mich mein Konterfei vom Bildschirm herab an. Ich hatte das Gefühl, eine Fremde vor mir zu sehen. Jeder Nachrichtensender brachte ein Foto von mir, wie ich vor der Villa mit Kriminalbeamten sprach. Der Filmstreifen, auf dem Raffaele und ich uns vor der Villa küssen, nachdem Merediths Leiche gefunden worden war, wurde andauernd wiederholt – häufig in Zeitlupe. Die machen etwas ganz anderes daraus. So wie das manipuliert wird, werden die Leute denken, Amanda konnte die Finger nicht von Raffaele lassen . Sie taten so, als zeugte unsere Zuneigung von einer abscheulichen Gleichgültigkeit gegenüber Meredith; es lag also auf der Hand, dass Raffaele und ich die Wahrheit verschwiegen. Für die Kommentatoren waren unsere tröstenden Küsse der Beweis, dass wir des Mordes fähig waren. Ihre Bemerkungen waren so ungerecht, ihre Mienen so selbstgefällig. Am liebsten hätte ich geschrien: »Schaut uns doch an! Sehen wir wirklich so aus, als wären wir drauf und dran, uns anzuspringen und mitten in der Auffahrt zu vögeln?« Was ich damals sah – und heute noch sehe –, sind ein junges Mädchen und ein junger Mann, die unter Schock stehen.
Ich war verletzt und empört darüber, dass Journalisten alles sagen oder andeuten konnten, was sie wollten. Sie veröffentlichten mein Foto, um mich als Inbegriff des Bösen hinzustellen. Ich konnte verstehen, dass einige Stammeskulturen glauben, man werde seiner Seele beraubt, wenn man sich fotografieren ließe.
Reporter plünderten meine Myspace-Seite, und das empfand ich auch als einen schändlichen Übergriff. Als ich in der Highschool mein Netzwerkprofil erstellte und mir dazu den Spitznamen borgte, den mir meine Fußballmannschaft verliehen hatte, erschien mir das sicherer, als meinen richtigen Namen zu verwenden. Klar, ich wusste, dass foxy die Bedeutung »sexy« oder »frech« hat, aber das war gerade die Ironie daran – und das Witzige. Auch meine Fußballfreundinnen hatten ironische und freche Spitznamen. Martinez war Martini, Miller war Miller Light, Trisha war Trash. Am College wechselte ich zu Facebook und ging nur noch selten auf Myspace. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass etwas so Harmloses dermaßen vernichtende Folgen haben könnte, dass die Staatsanwaltschaft sich auf die anderen Bedeutungen einschießen würde – »verschlagen« oder »durchtrieben«.
Über Nacht wurde mein alter Spitzname zu meiner neuen Persönlichkeit. Jetzt war ich der Welt als Foxy Knoxy bekannt, auf Italienisch volpe cattiva – wortwörtlich »bösartiger Fuchs«.
»Foxy Knoxy« war für die Strafverfolgung wichtig. Ein normales, freundliches, eigenwilliges Schulmädchen konnte diese Verbrechen nicht begehen. Ein bösartiger Fuchs hingegen wäre leichter zu verurteilen.
Sie waren davon überzeugt, dass Meredith vergewaltigt worden war – man hatte sie halb bekleidet am Boden gefunden, ein Kissen unter den Hüften – und dass sexuelle Gewalt in mörderische Gewalt ausgeartet war. Nach ihrer Theorie war der Einbruch nur vorgetäuscht.
Um aus mir die Person zu machen, der ein Gericht zutrauen würde, die Vergewaltigung und Ermordung ihrer Freundin zu inszenieren, musste ich in ihrer Vorstellung eine sexuell abartige, flatterhafte, hasserfüllte, unmoralische, psychopathische Killerin sein. Daher nannten sie mich Foxy Knoxy. Dieser unschuldige Spitzname fasste alles zusammen, was sie in mir sahen.
»Foxy Knoxy« steigerte auch die Auflage der Zeitungen. Die Klatschblätter durchforsteten mein Benutzerprofil bei Myspace und zogen die obszönsten Schlüsse daraus. Ich nahm es ihnen übel, dass sie meine Postings und Bilder aus dem Kontext gerissen und nur das Negative betont hatten. Ein Foto von mir machte die Runde, auf dem ich mich, ganz in Schwarz gekleidet, aufreizend auf einem Klavierstuhl zurücklehne. Deanna hatte es für ihren Fotokurs in der Highschool aufgenommen. Teile einer Kurzgeschichte wurden veröffentlicht, die ich für ein Seminar in kreativem Schreiben an der University of Washington verfasst hatte. Darin ging es um einen älteren Bruder, der wütend seinen jüngeren Bruder zur Rede stellt, weil er eine Frau vergewaltigt hat. Die Medien interpretierten vieles hinein. Fotos von mir auf Partys und in Gesellschaft von Freunden
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